Hart an der Grenze

Polizist Daniel Jahn im Einsatz an der ungarisch-serbischen Grenze.
Polizist Daniel Jahn im Einsatz an der ungarisch-serbischen Grenze.(c) Die Presse/Clemens Fabry
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Ein Jahr nach dem Kontrollverlust: Österreicher patrouillieren an der serbisch-ungarischen Grenze, der Flüchtlingsstrom ist abgeebbt. Zugleich berichten Migranten von Übergriffen durch Ungarns Polizei. Das Klima ist vergiftet.

Der Weg zu Bezirksinspektor Daniel Jahn führt durch ein kleines Naturjuwel. Zwei Brücken queren die Flusslandschaft, an deren Geländern bewaffnete Polizisten lehnen. Auch ein Soldat sieht sich durch seine Sonnenbrille um, auf der Suche nach Migranten, und zieht dann gelangweilt an seiner Zigarette. Ein Stück weiter auf einer rumpligen Straße hier im Donau-Nationalpark patrouilliert Daniel Jahn. Der 39-jährige Oberösterreicher und sein junger Kollege aus Linz sind Österreichs Beitrag zum Grenzregime im südungarischen Hercegszántó.

Es gibt hier Graureiher („schon gesehen“), Wildkatzen – und „viele Gelsen“, sagt Jahn. Die Nachtdienste müssen ziemlich jucken. Nur Migranten hat der Bezirksinspektor in den vier Wochen hier im Dreiländereck Ungarn-Serbien-Kroatien noch keinen einzigen zu Gesicht bekommen. Es gebe zwar ab und zu Aufgriffe, sagt Jahn. „Das hören wir über den Funk.“ Ein ungarischer Polizist zeigt später auf einen ausgetretenen Pfad, der in ein Feld führt: „Migranten!“ Aber Jahn war nicht dabei. Der Alltag hier sei „sehr monoton“, sagt er. Doch der 39-jährige Familienvater hilft, wo er kann: Er versucht zu übersetzen, wenn sich doch einmal ein Deutscher hierher verirrt – oder springt mit ein paar englischen Sätzen ein. „Und die Ungarn nehmen die Unterstützung an“,sagt er, auch wenn sie untereinander mit Händen und Füßen kommunizieren.

Polizisten und Soldaten an der grünen Grenze im Dreiländereck Ungarn-Kroatien-Serbien
Polizisten und Soldaten an der grünen Grenze im Dreiländereck Ungarn-Kroatien-SerbienClemens Fabry


Die Geste.
Die Verständigungsprobleme zwischen Österreich und Ungarn, das Zerwürfnis des Frühherbsts 2015, sind hingegen längst ein Stück Zeitgeschichte. Die zusätzliche Entsendung von Jahn und 19 weiteren österreichischen Polizisten an die EU-Außengrenze zu Serbien soll eine Geste an den Nachbarn sein. Österreich ist im vergangenen Jahr nach Osten gerückt, weg von Angela Merkels „Wir schaffen das“.

In der Schicksalsnacht des 4. September 2015 hatte noch Eiszeit entlang der Donau geherrscht. Werner Faymann war nicht zu erreichen, weil der Anrufer Viktor Orbán hieß. Die Flüchtlingspolitik des ungarischen Regierungschefs verglich Österreichs damaliger Kanzler indirekt mit dem Holocaust, auch den Grenzzaun zu Serbien verurteilte er: „Ein Stacheldraht ist keine Empfangsstelle für Menschen, die um ihr Leben fürchten.“ Dann kam der Klimawandel. Im Februar dirigierte Österreich die Schließung der Westbalkanroute an der griechisch-mazedonischen Grenze. Dort steht nun auch ein Zaun mit Stacheldraht. Und Außenminister Sebastian Kurz lieferte das Zitat zum Kurswechsel: „Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen.“

in paar Dinge haben sich in diesem einen langen Jahr nicht geändert. Sobald die Flüchtlinge hier eine Kamera sehen, spreizen sie Zeige- und Mittelfinger. „Peace“.
in paar Dinge haben sich in diesem einen langen Jahr nicht geändert. Sobald die Flüchtlinge hier eine Kamera sehen, spreizen sie Zeige- und Mittelfinger. „Peace“. Clemens Fabry



„Da kommen noch viele.“
Der Iraker Ronz, 16, hat zwei Narben, eine knapp über, die andere knapp unter der Kniekehle. „Ratsch, ratsch“, zischt ein Freund: Mit einer Zange hatten sie den Zaun an der serbisch-ungarischen Grenze aufgezwickt. Einer der angeblich 10.000 Polizisten und Soldaten auf ungarischer Seite hat sie gesehen. Dann kam der Hund und biss Ronz ins Bein.

Der 16-Jährige und seine Freunde sitzen nun in einem Elendslager vor der ungarischen Grenze fest, neben einem verfallenen Haus, das einmal ein Duty-free-Shop war. Auf dem Parkplatz hier im Niemandsland zwischen dem serbischen Kelebija und dem ungarischen Tompa sehen sie durch den Zaun massenweise Getränke und Lebensmittel. Serben laden hier auf dem Parkplatz einen Teil ihrer Großeinkäufe in Ungarn in leere Pkw um. Sonst schaffen sie es nicht durch den Zoll. Ein paar Dinge haben sich in diesem einen langen Jahr nicht geändert. Sobald die Flüchtlinge hier eine Kamera sehen, spreizen sie Zeige- und Mittelfinger. „Peace“.

Das Mädchen ist mit ihrem Vater in Kelebija gestrandet.
Das Mädchen ist mit ihrem Vater in Kelebija gestrandet.Clemens Fabry

Hawal ist so etwas wie ein Sprecher der Gruppe. Er hat einen Dreitagebart und eine kleine Tochter, die Erdnüsse vom Staubboden klaubt und sich in den Mund steckt. 6000 Euro habe er an Schlepper gezahlt, sagt er. 42 Tage ist Hawal nun in Serbien. Sie seien Jesiden, ihr Dorf im Irak habe der IS angegriffen, behauptet er. „Da kommen noch viele von uns nach.“ Ein paar Freunde seien in Bulgarien, andere in Mazedonien.

Die Stimmung hier ist gut, fast euphorisch. Das hat mit der Tür zu tun, die in die Containerreihe hinter den Zeltbaracken eingelassen ist. Es ist das Tor nach Ungarn, nach Europa, nach „Germany, Germany“. Schon in drei Tagen, sagt Hawal, soll es sich für ihn und seine Tochter öffnen. Er wird dann einen Asylantrag stellen, ein paar Polizeifragen beantworten und danach wohl in ein offenes Lager in Ungarn gebracht werden. Und dort wird er nicht bleiben. Hawal hat einen Plan. „In zwei Wochen bin ich in Wien“, sagt er – und dann irgendwann „bei Verwandten in Deutschland“. Sobald er in Österreich ist, hat er es jedenfalls geschafft. Denn Ungarn nimmt niemanden zurück – und niemand bleibt in Ungarn. 22.491 Asylanträge wurden bis Juni gestellt, 252 Menschen erhielten Schutz.

Immer wieder hat Ungarn sein Grenzregime nachgeschärft: Zuerst der Zaunbau entlang der 175 Kilometer langen Grenze zu Serbien, dann die Haftstrafen. Bis zu fünf Jahre Gefängnis drohen für die Beschädigung des Grenzzauns. Eine Zeitlang gab es im nahen südungarischen Szeged pausenlos Gerichtsverfahren gegen illegale Migranten, die aber meist mit Ausweisungen und Einreiseverboten endeten. Ungarn hat eher kein Interesse daran, Menschen, die es nicht im Land haben will, in seinen Gefängnissen durchzubringen. Also der nächste Coup: Ungarn dachte sich eine acht Kilometer breite Zone hinter dem Zaun aus. Wer dort aufgegriffen wird, wird nach Serbien zurückgeschoben. NGOs nennen diese Vorgehen „völkerrechtswidrig“. Aber die Zahl der Asylanträge in Ungarn ging seither zurück, von 4745 im Juni auf 1688 im Juli.

Es bleiben also die beiden Transitzonen. Jeden Tag öffnet sich gegen sieben Uhr früh für je 15 Flüchtlinge an den beiden Übergängen das Tor. „40 Tage“ müssen sie im Schnitt darauf warten, sagt ein UNHCR-Sprecher in Budapest. Familien haben meist Vorrang. Junge Männer würden daher die Geduld verlieren, sich mitunter wieder in die Hände von Schleppern begeben. „Die Spannungen nehmen zu, wir merken das bei der Essensausgabe. Jeder will der Erste sein“, klagt ein Caritas-Helfer.

„Nicht einmal ein Vogel kann heute ohne Kontrolle auf ungarisches Territorium fliegen“, prahlte Premier Orbán am Freitag. Den Grenzwall will er trotzdem verstärken, weil der EU/Türkei-Deal wackelt. Die Zäune in Ungarn, in Mazedonien, und das Abkommen mit Ankara bremsten den Flüchtlingsandrang massiv. Die Zahl der Aufgriffe entlang der Westbalkanroute (die nun über Bulgarien führt) ging im Juli verglichen mit dem Vorjahr um 94 Prozent auf 2160 zurück. Ein Drittel der Ertappten waren Afghanen.

Derzeit sind noch um die 100 Flüchtlinge vor der Transitzone Kelebija/Tompa gestrandet, in erster Linie Syrer und Iraker. 245 harren vor der zweiten Transitzone bei Röszke aus, vorwiegend Afghanen, Pakistaner und Iraner. „Die Syrer und Afghanen können nicht miteinander. Sie teilen sich auf“, sagt ein Beamter. Und noch einmal 410 Menschen warten in einem Lager im serbischen Subotica, ob ihr Name auf einem der ausgehängten Zettel auftaucht und sie in die Transitzone dürfen. Insgesamt halten sich 4400 Flüchtlinge in Serbien auf.

Das Lager dort in Subotica ist überbelegt – und doch ein Lichtblick. Hier gibt es Duschen und kostenlosen Internetzugang. weshalb viele hier pausenlos am Handy hängen. In dem kleinen Meer aus bunten Zelten steht auch Khurram in seinen schwarzen Schlapfen, vertieft in sein Mobiltelefon. Der 30-Jährige ist aus Pakistan. Er kam zu spät. Im Chaos 2015 wäre er in der endlosen Kolonne aus Menschen mit Schlafsäcken und Rucksäcken über die Gleise nach Ungarn marschiert. Niemand hätte ihn aufgehalten. Er hätte sich vielleicht als Syrer ausgegeben. Das wäre lange gut gegangen. Jetzt, ein Jahr später, grübelt er. Soll er wieder zurück nach Pakistan? Vor Ungarn hat er Angst. Das hat mit dem 12. August zu tun und mit der zentimeterlangen Narbe, die sich über seinen rasierten Kopf zieht.

Schwere Vorwürfe. An jenem 12. August hat es auch Khurram versucht. „Wir sind neun Stunden durch Ungarn marschiert.“ Während der Pause im Maisfeld platzte ihr Traum von Europa. Ein Polizist ertappte sie. Die Beamten machten Fotos, notierten die Seriennummern der Handys, brachten sie zurück hinter den Zaun nach Serbien.

„Kommt nie wieder nach Ungarn!“, habe man ihnen erklärt. Und dann, so erzählt es Khurram, prügelten sie ihnen diese Botschaft ein. „Sie riefen uns der Reihe nach zu sich. Wir mussten uns hinsetzen. Dann gab ein ungarischer Polizist so etwas wie ein Startsignal, und der andere schlug mit dem Schlagstock zu.“ Khurram schüttelt den Kopf: „Ich war wie weggetreten.“ Der Pakistaner wischt jetzt über sein Handy, Bilder öffnen sich, die ihn mit blutüberströmtem Kopf zeigen, seine Freunde mit klaffenden Wunden an Beinen und Armen. Sie sitzen auf den Aufnahmen vor einem Salatfeld. Am Horizont ist der Grenzzaun zu sehen.

Eine „Presse“-Anfrage an die ungarische Regierung blieb unbeantwortet. Khurrams Vorwürfe lassen sich nicht bestätigen. Sie decken sich aber mit Berichten von Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, die über eine Zunahme der Polizeigewalt klagen. Ein Mitarbeiter des serbischen Kommissariats für Flüchtlinge, einer Regierungsbehörde, bestätigt der „Presse am Sonntag“ einen weiteren Vorfall: „Erst gestern kam ein Flüchtling mit einem Hundebiss von der Grenze zurück.“ Die Zähne hatten sich so tief ins Fleisch gebohrt, dass der Mann noch immer im Krankenhaus lag.

Vogelscheuchen. Niemand weiß, ob die Übergriffe Kalkül sind, also abschrecken sollen, oder Einzeltaten von Polizisten, die das vergiftete Klima in Ungarn benebelt hat. In der Grenzregion haben sich Bürgerwehren formiert. Zur Abschreckung steckten sie Vogelscheuchen auf den Grenzzaun. Ein EU-Abgeordneter der Regierungspartei Fidesz schlug alternativ Schweineköpfe vor.

Die zunehmende Stimmungsmache gegen Migranten ist mit einem Datum verwoben: Am 2. Oktober wird in einem Referendum über die EU-Flüchtlingsquote abgestimmt. „Wussten Sie, dass seit dem Beginn der Migrationskrise 300 Menschen durch Terroranschläge in Europa starben?“, lässt Orbán nun plakatieren. Oder: „Wussten Sie, dass Brüssel illegale Migranten im Ausmaß der Einwohner von einem ganzen Ort in Ungarn ansiedeln will?“ Es sind 1294.

Für Khurram, den Pakistaner mit der Narbe, ist kein Platz in Europa. So oder so. Er hat keinen Asylgrund. „Aber das Leben ist wirklich schlecht in Pakistan“, klagt er. „Die Wirtschaftsprobleme, die Banden, die mir in meinem Vorort der Hauptstadt Islamabad das Geld abpressen.“ Aber wusste er denn nicht, dass Europa keine Wirtschaftsmigranten aufnimmt? „Doch“, sagt er. Er arbeite an der Rückreise. Mit der pakistanischen Botschaft ist er in Kontakt. Denn er hat seine Papiere zerstört, so wie die meisten Flüchtlinge hier, „weil ich ja ursprünglich nicht zurückwollte“. Und ganz sicher ist er sich nicht, ob er nicht doch noch warten soll, bis er in die Transitzone nach Röszke darf, in die Container neben der Autobahn, in deren Rücken sich das zweite, größere Elendslager ausdehnt.

Besuch aus Bayern. Auf den Stacheldrahtrollen vor der Transitzone liegen Leibchen und Hosen, die in der sengenden Sonne trocknen sollen. Die Toilette der Wahl scheint für Gestrandete hier ein nahes Stück Wiese zu sein. Fließwasser gibt es nicht. Die Zelte haben manche mit Laub abgedeckt. Eine deutsche CSU-Abgeordnete fährt vor. Der Chef des serbischen Kommissariats für Flüchtlinge empfängt – und kommt in dem informellen Gespräch gleich auf den Punkt. Die „österreichischen Freunde“ habe er schon unterrichtet, sagt er. Man müsse die bulgarisch-türkische Grenze schützen, eines der Einfallstore in die EU, nicht erst die Grenze zu Serbien, die schwerer zu überwachen sei. Die Zeit dränge. Wenn es Herbst wird, die Nächte länger werden, dann kostet die Überwachung viel mehr. Die hier in Serbien ausharrenden Flüchtlinge solle man passieren lassen. Früher oder später, erklärt er sinngemäß, kämen sie ohnehin nach Ungarn und Deutschland. „Das wollen wir aber nicht“, sagt die Abgeordnete.

Bezirksinspektor Jahn.
Bezirksinspektor Jahn.Clemens Fabry

Die Welt der Politik hat Bezirksinspektor Jahn nicht motiviert, hier die EU-Außengrenze zu schützen. Auch nicht die Zulage von rund 1000 Euro. Er wolle ein bisschen in andere Kulturen schnuppern, sagt er. Er mag Grenzeinsätze. Prinzipiell. Weiß er von Polizeigewalt? Jahn schüttelt den Kopf. Er trägt eine blaue Armbinde mit der Aufschrift Frontex. Die EU-Grenzschutzagentur hat ihn in Grundrechtsfragen geschult. „Falls ich einen Übergriff sehe, muss ich das sofort melden, sonst bekomme ich selbst Probleme.“ Diese Woche fährt er heim. Das nächste Mal will er wieder an einem Grenzübergang Dokumente prüfen, so wie am serbisch-kroatischen.

Abschied. Fahrt zurück Richtung Österreich. Vor Nickelsdorf ein einstündiger Aufenthalt – Grenzkontrolle. Der Blick wandert hinüber auf das alte Zollareal, wo sich Tausende Menschen drängten in jenen Nächten des Septembers 2015. Das Bundesheer schuftete damals am Aufbau von behelfsmäßigen Unterkünften. Bald könnten auch österreichische Soldaten an die ungarisch-serbische Grenze beordert werden. Eine Entscheidung fällt möglicherweise schon diese Woche. Dazwischen liegt ein langes Jahr – und ein Klimawandel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2016)

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