Philipp Blom: „Wir sind ein No-Future-Kontinent geworden“

Philipp Blom
Philipp Blom(c) Die Presse - Clemens Fabry
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Der Historiker und Autor Philipp Blom erklärt, warum der „autoritäre Traum“ Überhand über den liberalen gewinnt. Die Burka, sagt er, dürfen wir bei uns nicht akzeptieren.

Die Presse: IS, Brexit, Triumphe von Rechtspopulisten, Trump, Putin, Erdogan: Das Irrationale ist auf dem Vormarsch. 70Jahre lang schien es, dass weite Teile der Welt immer liberaler und demokratischer werden. Warum gerade jetzt der Bruch?

Philipp Blom: Machen wir den historischen Horizont auf: Die Aufklärung war eine Reaktion auf die Erfahrung von Unterschiedlichkeit. In Europa hatten sich immer mehr Kulturen angesammelt, mit unterschiedlichen Sprachen und Glaubensrichtungen. Nach einem Jahrhundert von Religionskriegen wurde es in einer Zeit wachsender Märkte wichtig, ein neues Konzept zu finden: die Rechte des Individuums gegenüber der Gemeinschaft zu stärken. Man war nicht zuerst Protestant oder Katholik, sondern Mensch. So konnte man miteinander umgehen.

Das war doch ein sehr erfolgreiches Konzept. Ist es das nicht mehr?

Wir wissen empirisch, dass Inklusion immer erfolgreicher ist als Exklusion: In liberalen Gesellschaften ist die Lebenserwartung höher, das Durchschnittseinkommen und das Bildungsniveau. Aber dieser liberale Traum ist nur eine Geschichte, die wir uns erzählen. Sie ist per se keine Realität, sie schafft aber Realität: gleiche Rechte, gleiche Würde. Das Problem ist: Das sind nicht die einzigen Werte, die sich Menschen wünschen. Stolz, weibliche Reinheit, das Vermeiden von Scham oder Schuld – solche Werte können die pragmatischen Vorteile aushebeln.

Daraus erwächst, was Sie den „autoritären Traum“ nennen. Was hat er zu bieten?

Er geht auf Exklusion: „Ich sehe mich als Teil einer Gruppe, die besser ist. Wer anders ist, ist unsere Bedrohung, er kann uns nur etwas wegnehmen.“ Für den Einzelnen ist das ein Gewinn an Stolz, Identität, Sicherheit. Wer in Putins Russland lebt, weiß, dass er in einem „großen Land“ lebt, auch wenn man dort zehn Jahre früher stirbt als im Westen. Wir erleben gerade, wie der autoritäre Traum an Überhand gewinnt. Er verspricht einfache Antworten, eine überschaubare Welt. Das ist eine falsche und trügerische Hoffnung. Aber sie ist sehr verständlich. Hier sind bei sehr unterschiedlichen Bewegungen dieselben Mechanismen am Werk: Kollektivität, Rückzug, natürliche Geschlechterrollen, ein Monopol auf Wahrheit. Das funktioniert, von den Märtyrern des IS bis Donald Trump, von Hindu-Nationalisten bis Frauke Petry und Norbert Hofer. Es kann religiös verbrämt sein, es kann aber auch auf Volkstum und die eigene Geschichte bezogen werden.

Warum genügt uns der Wohlstand nicht?

Der Markt hat bei uns die politische Ideologie ersetzt. Das Einzige, was er anbietet, ist eine Konsumentenidentität: Sie sind ein Hilfiger-Typ oder ein Versace-Typ. Das ist nur Schein, ein Surrogat.

Dahinter steht doch auch Stolz: darauf, wie viel Geld man verdient.

Man hat immer weniger verdient, als man wollte. Das ist die Transzendenz des Markts: Wie in der Religion ist man immer schon schuldig, nicht gut genug zu sein.

Aber das ist doch auch nicht neu. Nochmals: Warum gerade jetzt?

Menschen brauchen ein Hoffnungsnarrativ. Das gibt es nicht mehr. Zugleich bahnen sich enorme Veränderungen an. Wir haben das Ende einer Arbeiterklasse erlebt, die durch Gewerkschaften und sozialistische Parteien politisch vertreten war. Die Mittelschicht hat heute Angst: dass der Sozialstaat nicht aufrechtzuerhalten ist, dass unser Pensionssystem kollabiert, vor den Robotern, vor dem Klimawandel. Wir sind ein No-Future-Kontinent geworden: Wir wollen keine Zukunft gestalten, wir wollen nur die Gegenwart so lang wie möglich ausdehnen.

Brauchen wir eine neue Form von Gemeinschaft?

Wir haben den Leuten so lang eingeredet: „Du bist für dich selbst da, wenn du etwas erreichst, ist es nur dein Verdienst, und du kannst ihn nur selbst genießen.“ Wir bieten kein Zukunftsmodell an, in dem wir miteinander etwas erreichen, für das wir auch bereit sind zu verzichten.

Aber sind die demokratischen Werte nicht fest verankert?

Das Recht auf freie Meinungsäußerung treibt nicht viele auf die Straße. Die Demokratie ist jung, sie ist historisch gesehen die absolute Ausnahme. Und wenn wir nicht aufpassen, wird sie das bleiben.

Im Internet äußern sehr viele frei ihre Meinung...

Die frühere demokratische Öffentlichkeit zersplittert sich immer mehr in Cyber-Communitys, wo man nicht mehr mit Dissens umgehen muss. Man spricht dort nur noch mit Menschen, die der eigenen Meinung sind und die eigenen Theorien bestätigen. Das ist für eine Demokratie etwas potenziell Verheerendes.

Wo steht Europa ein Jahr nach der Flüchtlingskrise?

Wir haben uns erst einmal abgeschottet. Aber der Migrationsdruck wird zunehmen, und damit müsste die Abschottung brutaler werden. Sind wir wirklich bereit, Flüchtlinge an der Grenze zu erschießen? Schon der Deal mit Erdogan ist kein besonderes Kompliment an unseren tiefen Glauben an Menschenrechte. Das ist der moralische Bankrott des Westens. Aber es wahrt den sozialen Frieden bei uns, und das ist auch eine Priorität. Wenn die Wähler nicht akzeptieren, dass wir für diese Menschen verantwortlich sind– was sollen wir da machen?

Wie stehen Sie zur Burka?

Mich irritiert das maßlos. Nicht weil ich will, dass in Österreich alle Lederhosen tragen. Aber jede Gesellschaft braucht einen Grundkonsens. Es ist symbolisch ganz entscheidend für eine Demokratie, dass wir einander ins Gesicht sehen. Deshalb ist es nicht akzeptabel, dass jemand sein Gesicht in der Öffentlichkeit völlig versteckt. Das signalisiert: „Mich gibt es nicht, du darfst nicht mit mir sprechen, sprich mit meinem Mann, ich bin keine vollgültige Person.“ Das geht nicht. Es gehört nicht in unsere Gesellschaft. Es gibt Dinge, die nicht mehr verhandelbar sind, und dazu gehört die Gleichheit von Mann und Frau. Wenn jemand gar nicht damit leben kann, muss er nicht in unserem Land leben. Natürlich sind unsere moralischen Instinkte relativ. Aber das spricht uns nicht davon frei, sie gegen andere zu verteidigen.

Bei uns. Und auch in anderen Ländern?

Für mich persönlich sind die liberalen Werte die besten, die in der Menschheitsgeschichte erfunden wurden. Man kann auch sagen: Sie sind das objektiv, weil die Indikatoren zeigen, was sie Menschen bringen. Aber diese Werte aufzwingen zu wollen hat sich immer als kontraproduktiv erwiesen. Sie sind nicht das größte Ziel der meisten Menschen der Welt. Es ist sehr arrogant von uns zu sagen: „Diese Menschen leben in infantilen, defizienten moralischen Universen und sind zu blöd zu sehen, wie die Welt wirklich ist.“ Wenn wir nicht die Ziele anderer respektieren, sofern sie nicht absolut fundamentale Dinge für uns verletzen, dann haben wir selbst nichts gelernt. Wir sind lang genug die Lehrmeister der Welt gewesen. Unsere Tradition hat etwas zu einer besseren Zukunft der Menschheit beizutragen. Aber nicht durch Belehrung, Zwang und Invasion, sondern nur durch Vorleben.

Nehmen wir Asien. In Südkorea etwa haben sich mit steigendem Wohlstand auch Demokratie und Menschenrechte gefestigt, ganz ohne westlichen Zwang...

Zugleich ist es ein gutes Beispiel für andere moralische Intuitionen! Eine Studentin aus Südkorea sagte meiner Frau: „Es ist bei uns erlaubt, sich scheiden zu lassen, aber es macht niemand. Bei uns ist Glück kein so besonders wichtiges Ziel.“ Es ist eben möglich, in einer Gesellschaft zu leben, wo man indirekt zum Glück kommt, durch Erfüllung einer sozialen Rolle. Wo Gemeinwohl wichtiger ist als individuelles Wohl, wie in China. Da soll man nicht sagen: „Wir wissen es besser.“ Es ist hinzunehmen, dass andere Gesellschaften nach anderen Prinzipien funktionieren.

Was bedeutet das für Sie persönlich?

Ich bin ein enthusiastischer Mensch. Ich möchte Menschen von Dingen überzeugen, die mir leidenschaftlich am Herzen liegen. Aber die Haltung des Lehrers ist dafür nicht die beste. Wenn ich Menschen inspirieren kann, im Alltag etwas anderes auszuprobieren, ist das wunderbar.

Sie wirken aber eher resigniert...

Ich versuche derzeit verzweifelt, optimistisch zu sein.

ZUR PERSON

Philipp Blom ist ein deutscher Historiker, Schriftsteller, Journalist und Übersetzer. Er wurde 1970 in Hamburg geboren. Dort und in Detmold wuchs er auf. Nach seinem Studium der Philosophie und Geschichte in Wien und Oxford lebte er mehrere Jahre in London und Paris, nun aber schon länger wieder in Wien. Seine ersten Bücher verfasste er auf Englisch und übersetzte sie selbst ins Deutsche. Radiohörern ist Blom als Moderator der Ö1-Diskussionssendung „Von Tag zu Tag“ bekannt. In seinem Buch „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900 bis 1914“ analysierte er die gesellschaftlichen Umbrüche im Vorfeld des Ersten Weltkriegs. Eine ähnliche Zeitenwende sieht er auch in unseren Tagen anbrechen: einen Wandel vom „liberalen Traum“ zum „autoritären Traum“. Bloms besondere Leidenschaft gilt den Ideen und Werten der Aufklärung. In seinem Buch „Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung“ hat er ihren Vorreitern, den Enzyklopädisten um Diderot und d'Alembert im Frankreich des 18. Jahrhunderts, ein Denkmal gesetzt – und zugleich eine Liebeserklärung an ihre Geisteshaltung geschrieben. Immer wieder hat Blom seine Forschertätigkeit unterbrochen, um literarisch tätig zu werden. Ende Juli erschien sein Roman „Bei Sturm am Meer“ (Verlag Paul Zsolnay, 224 Seiten). Er erzählt über drei Generationen die Geschichte einer Familie. Blom ist mit der neuseeländischen Schriftstellerin und Biografin Veronica Buckley verheiratet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2016)

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