Zwischen Zorn und Stolz: Die neue Angela Merkel

German Chancellor Angela Merkel, speaks during a meeting at the lower house of parliament Bundestag on 2017 budget in Berlin
German Chancellor Angela Merkel, speaks during a meeting at the lower house of parliament Bundestag on 2017 budget in Berlin(c) REUTERS (STEFANIE LOOS)
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Die angeschlagene Bundeskanzlerin hält eine ungewöhnlich emotionale Rede zur Lage der Nation und erweckt dabei nicht den Eindruck, als wäre sie amtsmüde.

Berlin. Angela Merkel hat sich verändert. Sie ist jetzt nicht mehr die kühle, vom Verstand geleitete Kanzlerin, die nichts erschüttern kann und die auch nicht angezweifelt wird. Die neue Angela Merkel ist angeschlagen, sie wankt. Und wenn sie wankt, dann fällt es ihr schwerer, ihre Gefühle zu kontrollieren.

Es ist Mittwoch, nach neun Uhr, als die neue Angela Merkel ans Rednerpult im Bundestag tritt. Eigentlich sollte es um das Budget für 2017 gehen, eine Generaldebatte steht auf dem Programm. Doch die Kanzlerin verfehlt absichtlich das Thema. „Hinter uns liegt ein Jahr, in dem uns viel abverlangt wurde“, sagt sie. „Aber die Situation heute ist um ein Vielfaches besser als noch vor einem Jahr.“

Die Kanzlerin, in einen roten Blazer gekleidet, bemüht sich um eine sachliche Distanz zu dem, was sie da von sich gibt. Aber es gelingt ihr nicht, zumindest nicht die ganze Zeit. In ihrer Stimme schwingt Unsicherheit mit, Zorn, aber auch Stolz. Das vergangene Jahr hat ihr zugesetzt, besonders die letzte Woche. In Mecklenburg-Vorpommern wurde die CDU am Sonntag von der AfD überholt. Für Merkel war das eine Blamage. Nicht nur, weil sie dort ihren Wahlkreis hat, sondern weil ihr alle die Schuld dafür geben.

Doch die Kanzlerin will von ihrem Kurs in der Flüchtlingspolitik nicht abweichen. Sie fühlt sich missverstanden und ist der Meinung, man müsse die Dinge nur besser erklären. Und deshalb sucht sie jetzt nach Gegenargumenten für ihre Kritiker: Die Flüchtlingszahl sei deutlich reduziert worden, es gebe ein Integrationsgesetz, neue Wohnungen und Kindertagesstätten – „im Übrigen für alle in Deutschland, nicht nur für Flüchtlinge“.

Dass es nach wie vor Probleme gibt, will Merkel gar nicht leugnen, etwa bei der Integration und den Rückführungen: „Denen, die kein Bleiberecht haben, müssen wir sagen: ,Ihr könnt nicht bleiben.‘“ Aber der Terrorismus sei schon vor den Flüchtlingen dagewesen, wenn auch „nicht alle, die kommen, nur friedliche Absichten haben“. Man müsse daher die innere Sicherheit weiter erhöhen, unter anderem mit zusätzlichen Polizisten.

Türkei-Deal: Ein Vorbild für weitere

Auch in der EU gebe es noch viel zu tun. „Ja, es ist richtig: Die Solidarität in Europa lässt zu wünschen übrig“, sagt Merkel. Aber man habe auch etwas erreicht. Die Grenzschutzagentur Frontex sei neu aufgestellt, in der Ägäis eine Nato-Mission gestartet worden. Und es gebe ein Abkommen mit der Türkei.

Das bedeute nicht, dass Menschenrechtsverletzungen in der Türkei nicht weiter beim Namen genannt würden. Aber wenn man den Schleppern das Geschäft entziehen und Leben retten wolle, „muss man mit den Nachbarn sprechen“. Vor diesem Deal, sagt Merkel jetzt ungewöhnlich emotional, seien Hunderte Kinder und Frauen ertrunken. „Da kann man doch nicht einfach zusehen.“ Nein, diesem Abkommen sollten, ja, müssten weitere folgen. Mit Ägypten, Tunesien und Libyen.

Von Nordafrika wechselt die Kanzlerin in den deutschen Nordosten, nach Mecklenburg-Vorpommern. Wählerbeschimpfungen seien nicht angebracht. „Jeder von uns muss sich an die eigene Nase fassen.“ Die AfD sei nicht nur eine Herausforderung für die CDU, sondern „für alle in diesem Haus“. An dieser Stelle spendet auch die Opposition Beifall.

Die Politik, sagt Merkel, müsse sich im Ton mäßigen. „Wenn auch wir anfangen, in der Sprache zu eskalieren und Fakten beiseite zu wischen, gewinnen nur die, die auf einfache Antworten setzen.“ Es ist eine subtile Botschaft an CSU-Chef Horst Seehofer, ihren schärfsten Kritiker in der Union. Und auch die SPD, die sich von der gemeinsamen Asylpolitik distanziert hat, handelt sich eine Rüge ein: „Wenn wir untereinander den kleinen Vorteil suchen, um zum Beispiel mit einem blauen Auge über einen Wahlsonntag zu kommen“, dann helfe das nur der AfD.

Gegen Ende ihrer 25-minütigen Rede zur Lage der Nation bzw. zur Lage von Angela Merkel wird die Bundeskanzlerin beinahe philosophisch: „Welches Land wollen wir im 21. Jahrhundert sein?“, fragt sie in die Runde. Wie solle man der Globalisierung begegnen, wie den Menschen Halt geben in einer Welt, die sich gerade so gewaltig verändere?

Die Antwort gibt sie sich dann selbst: „Wir dienen unserem Land am besten, wenn wir uns an den europäischen Werten orientieren, an Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit und Solidarität.“ Deutschland sei wirtschaftlich stark und stabil. Und es habe sich immer wieder verändert. „Veränderung ist nichts Schlechtes“, sagt Merkel. Sie habe das nach der Wende selbst erlebt. Aber an den Grundsäulen des Staates, an „Liberalität, Demokratie, Rechtsstaat und der sozialen Marktwirtschaft“, würde sich nichts ändern. „Deutschland wird Deutschland bleiben – mit allem, was uns daran lieb und teuer ist.“

Es ist nur eine andere Formulierung für: „Wir schaffen das“. Und es ist eine Ansage: So spricht keine Kanzlerin, die amtsmüde ist. Die neue Angela Merkel, so viel steht seit Mittwoch fest, hat noch etwas vor.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2016)

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