Journalistin Gessen: „Russlands Gesellschaft ist totalitär“

Russlands Präsident Putin (Mitte).
Russlands Präsident Putin (Mitte).
  • Drucken

Die in New York lebende russische Journalistin Masha Gessen spricht über die Dumawahlen am Wochenende. Sie erklärt, wie das System Putin funktioniert und wie es die Menschen der eigenen Meinungsbildung beraubt.

Die Presse: Die Parlamentswahl im Jahr 2011 führte zu den Straßenprotesten und ihrer Niederschlagung. Welche Signifikanz hat die aktuelle Duma-Wahl?   Masha Gessen: Das ist keine Wahl. Es ist eine Art Event, der destabilisierend oder mobilisierend wirken kann. Ein Stresstest für das System. Viele gehen davon aus, dass der moralische Schock 2011 zu Protesten geführt hat. Sicher, Putin und Medwedjews Postentausch im September war ein Aspekt. Durch das Tauwetter unter Medwedjew war Potenzial für soziale Veränderung kumuliert worden. Es war eine Zeit der Quasistabilität, die Menschen hatten im restriktiven System zumindest ein bisschen persönlichen Raum für sich abgesteckt. Als Putin und Medwedjew ihren Wechsel ankündigten, hatten die Bürger das Gefühl, der Staat gehe zu weit.

Wie stehen Sie persönlich zu einer Stimmabgabe?
Manche sagen, die Wahlen legitimierten nur das Putinsche System. Da ist auch das Problem mit der Krim, da sie auch dort abgehalten werden, also legitimiert man damit die Annexion. Das Gegenargument, etwa von Michail Chodorkowskij, lautet: Das Putin-Regime wird einmal fallen, er wird sterben oder sonst was. Wir sollten vorbereitet sein und politische Erfahrung sammeln. Es geht darum, rudimentäre alternative Institutionen zu bilden. Beide Argumente haben ihre Gültigkeit.

Das Regime ist bemüht zu kommunizieren, dass die Wahlen fair ablaufen werden. Ist der Kreml beunruhigt?
Jedes Regime braucht Feedback. Auch das Sowjetregime wollte wissen, was in der Gesellschaft wirklich passierte, was die Leute dachten. Gleichzeitig hatten sie Angst davor. Auch vor den Soziologen, die das herausfinden sollten. Umfragen waren top secret. Ähnlich interpretiere ich den Tanz um diese Wahl. Das Regime weiß, dass es nicht weiss, was im Land vorgeht. Das Parlament funktionierte einmal als Feedbackraum für Einiges Russland. Doch es wurde zurückgestuft, die Gouverneure werden ernannt, die Lokalmedien sind tot. Es fehlt also an Feedback. Die Regierenden sehen das Parlament und jede andere Institution als Kontrollinstitution. Um effektiv kontrollieren zu können, braucht man ja auch irgendeine Art von Verbindung.

Ist das auch der Grund, warum noch immer unabhängige Medien existieren?
Manche haben so eine Funktion, etwa Radio Echo Moskwy, um zu sehen: Was denken die (kritische Intellektuelle, Anm.) eigentlich. Oder auch um Dampf abzulassen. Es hat auch technische Gründe. Man kann nicht alle Medien gleichzeitig schließen. Es ist ein gradueller Prozess.

Die Kontrolle über die Medien ist eine der zentralen Stützen von Putins Regime. Welchen Langzeiteffekt hat das auf die Medienkonsumenten und die Öffentlichkeit?
Eine Folge der Kontrolle über die Medien ist das Verschwinden der öffentlichen Sphäre. Das Fehlen von Öffentlichkeit ist ein Kennzeichen der totalitären Gesellschaft. In dem Buch, das ich gerade zu Ende schreibe, lautet meine These: Russland hat zwar kein totalitäres Regime, es hat ein Mafiastaat-Regime, aber es hat eine totalitäre Gesellschaft. Man hat sie aus der Sowjetzeit geerbt. Zwar sind einige Veränderungen passiert, aber die Gesellschaft wurde nicht grundlegend transformiert. Die gelebte Erfahrung der Russen ist die Erfahrung in einer totalitären Gesellschaft. Es war für Putin sehr einfach, zu totalitären Verhältnissen zurückzukehren.

Was aber ist mit der Freiheit der 1990er Jahre? Diese neue Ära prägte doch die Generation der heute 30- bis 50-Jährigen.
Menschen in ihren 30ern haben ihr ganzes Erwachsenenleben unter Putin verbracht. Menschen in ihren 40ern die meiste Zeit. Die aktive Bevölkerung Russlands hat das meiste oder all ihr Erwachsenenleben unter Putin verbracht. Zudem waren die 1990er eine sehr widersprüchliche Erfahrung. Ich gehe davon aus, dass es keinen wirklichen Bruch mit der Vergangenheit gab. Westliche Journalisten und Moskauer Intellektuelle sehen traditionell die Abwendung des Putsches im August 1991 als Bruch. Das ist schön zu denken, hat aber nicht viel mit der Realität zu tun.

Was war die Realität?
Es war eine Entscheidung im Machtkampf zwischen Boris Jelzin und Michail Gorbatschow. Jelzins Sieg bedeutete, dass er die Institutionen des sowjetischen Staats übernehmen konnte. Nicht um sie zu zerstören, sondern um sie zu übernehmen! Jelzin wollte Russland befreien, den Totalitarismus zurückzulassen, aber was er de facto tat, war folgendes: Er übernahm die sowjetischen Institutionen. Als er das Parlament 1993 attackierte, tätlich und mit Worten, war das bereits eine totalitäre Antwort auf Konflikt und Protest. Ich nenne Jelzin nicht totalitär. Wenn so etwas in einer demokratischen Gesellschaft passiert, würde ich es nicht notwendigerweise totalitär nennen. Was aber in Moskau 1993 passierte, diese Antwort der Regierung auf Konflikt, der Einsatz von Gewalt, war ein totalitäres Signal, das als solches von der Gesellschaft verstanden wurde. Daher bestand nur eine Chance auf Veränderung zwischen August 1991 und Oktober 1993. Die wurde nicht genutzt.

Wo hat in Ihrer Theorie die Freiheitserfahrung Platz?
Keine totalitäre Gesellschaft ist monolithisch, auch die sowjetische war es nicht, die heutige ist es ebenso nicht. Gleichzeitig passierten natürlich unglaublich aufregende Dinge. Der Soziologe Lew Gudkow (Chef des in Bedrängnis geratenen Moskauer Lewada-Zentrums, Anm.) nennt diese Zyklen „abgebrochene Modernisierung“. Potenzial baut sich auf, doch Gewaltanwendung zerstört es. Das passierte in Russland. Die Medienfreiheit wurde gestoppt, das Potenzial zur Veränderung der Gesellschaft blieb ungenutzt.

Der Begriff Totalitarismus ist aufgeladen und umstritten. Warum halten Sie ihn dennoch für richtig?
Das hat zwei Gründe. Was ich zu beschreiben versuche, ist etwas, das keine Entsprechung in anderen Ländern hat. Was Russland vom Rest der Welt unterscheidet, ist sein 70-jähriges Erleben von Totalitarismus. Es gibt kein anderes Wort dafür. Es gibt andere Länder, die eine totalitäre Herrschaft hatte, aber niemals so lange wie in Russland, und nicht selbst auferlegt.

Kritiker könnten sagen, Sie übertreiben mit Ihrer These.
Ihr Einwand berührt die Frage des Denkmöglichen, der Vorstellungskraft. Diese Frage fasziniert mich. David Cameron berief ein Referendum ein, weil er sich den Brexit in der Zukunft nicht vorstellen konnte. Unsere Vorstellungskraft funktioniert auch in der Vergangenheit nicht gut. Ein anderes Buch, an dem ich arbeite, beschäftigt sich mit der Erinnerung an den Gulag. Frühere Häftlinge stolpern über das Problem sich zu erinnern, dass es wirklich so schlimm war, wie es war. Totalitarismus zu denken in Zukunft und Vergangenheit ist schwierig, ebenso in der Gegenwart. Wenn man in so einer Zeit lebt, hat man einen Alltag, isst und liebt. Es ist schwer zu glauben, dass die Lage tatsächlich so schlimm ist.

Wie Sie mit Cameron andeuten, beschränkt sich das nicht nur auf Russland. 
Amerika hat auch das Problem der politischen Imagination. Meine Freunde in den USA wollten nicht glauben, dass Donald Trump als Kandidat nominiert werden könnte. Mangel an Vorstellungskraft ist aber kein politisches Argument. Hillary Clintons Logik folgt der Matrix der Politik von früher. Sie kann sich ihr Ende nicht vorstellen. Erst allmählich nennt man Trump einen Faschisten. Es waren die Exilanten des 20. Jahrhunderts – Arendt, Marcuse, Adorno, Fromm –, die uns davor warnten, dass Modernität die Grundvoraussetzung für Faschismus ist. Es kann hier und jetzt passieren. Es passiert jetzt und hier. Es ist nicht undenkbar.

Was heißt das nun für Putins System?
Während Tyrannei einem bestimmte Meinungen aufzwingen will, beraubt einen der Totalitarismus überhaupt der Meinungsbildung. Bis 2012 war Putins System autoritär, seither ist es totalitär. Während Autoritarismus die Macht beansprucht und klare Regeln aufstellt, geht es im totalitären System um Mobilisierung. 2012 begann die Mobilisierung. Natürlich gab es das vorher schon ein wenig, rund um den Tschetschenienkrieg und Georgien. Doch seit der Niederschlagung der Proteste 2012 gibt es Mobilisierung nonstop.

Wie reagiert die Gesellschaft?
Nach den Protesten wurde eine ganze Reihe von restriktiven Gesetzen erlassen, die weite Teile der Gesellschaft kriminalisieren, aber selektiv angewendet werden. Theoretisch können sie jeden treffen. Anstatt dass nur der Staat die Gesetze umsetzt, haben die Menschen damit begonnen, sie zu implementieren. Man gründet Elternorganisationen, die fordern Bücher aus Kinderschutzgründen zu verbieten. Gewalt gegen Homosexuelle ist sprunghaft angestiegen. Der Soziologe Jurij Lewada hat die Institution der kollektiven Geiselhaft als die Schlüsselinstitution des Sowjetsystems definiert.

Einschließlich Selbstzensur?
Ein Beispiel: Als meine Familie die Sowjetunion verließ, musste meine Mutter ihren Job aufgeben. Wenn sie während der Beantragung des Ausreisevisums gearbeitet hätte, hätten ihre Kollegen womöglich Probleme bekommen. Also gab sie ihren Job sechs Monate vor der Antragstellung auf. Dann warteten wir noch zwei Jahre, bis wir das Visum bekamen. Meine Mutter war der Hauptverdiener in der Familie. Die moralische Logik meiner Mutter war normal in diesem Kontext. Sie dachte, sie täte das Richtige. Die ganze Gesellschaft befand sich in diesem Status moralischer Geiselhaft, wo Menschen zu Vollstreckern werden und Moralität pervertiert ist. Selbstzensur ist ein perfektes Beispiel. Diese Institutionen wurden wieder gegründet. Heute fallen Signale von der Spitze, anders als in anderen Gesellschaften, wieder auf fruchtbaren Boden.

Zurück zu den Medien: Ist die von ihnen betriebene Mobilisierung nicht sehr oberflächlich? Themen kommen und gehen – der Maidan, der Krieg im Donbass, dann die Schadenfreude über Europas Flüchtlingskrise, Feind-Freund Türkei, die Olympia-Aufregung, der Militäreinsatz in Syrien. Wie tief gehen diese Ideologie-Fetzen überhaupt?
Sie gehen davon aus, dass wir von einer normalen Gesellschaft sprechen. Aber bei der immer wechselnden Mobilisierung geht es eben darum, wie Arendt sagte, dass Menschen beraubt werden, ihre eigene Meinung zu bilden. Es ist nicht so, dass die Menschen tief im Inneren etwas Anderes denken oder Angst hätten – nein! Sie wurden der Bildung ihrer Meinung beraubt. Daran ist nicht nur Putin schuld, daran ist der ganze Zeitraum der 70 Jahre Sowjetunion schuld. Es ist die permanente Instabilität, die die Bürger unter Kontrolle hält im Namen der Stabilität. Putins magisches Wort wurde auch gerne von Hitler und Stalin verwendet. Es ist eine Maske für die Instabilität, von der die Russen umgeben sind. Der schnelle Themenwechsel ist förderlich für die Mobilisierung. Was konstant bleibt, ist das Gefühl des Belagerung.

Zur Person

Masha Gessen wurde 1967 in Moskau geboren. 1981 konnte ihre Familie die Sowjetunion verlassen und siedelte sich in den USA an. Sie kam 1991 nach Russland zurück und arbeitete als Journalistin. Da sie Jubelberichterstattung über Putin ablehnte, wurde sie als Chefredakteurin des Reisejournals „Wokrug Sweta“ („Rund um die Welt“) entlassen. Gessen setzte sich in Russland auch für die Rechte Homosexueller ein.
Sie ist Autorin mehrerer Bücher, die dem Genre des literarischen Journalismus zuzurechnen sind. Ihre Putin-Biografie „Der Mann ohne Gesicht“ wurde 2012 ins Deutsche übersetzt. Auf Englisch erschien zuletzt ein Buch über Birobidschan, dem Jüdischen Autonomen Gebiet in der Sowjetunion. Ihr Buch über Totalitarismus in Russland erscheint nächstes Jahr. Sie war im August beim Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien zu Gast. Gessen lebt mit ihrer Partnerin und drei Kindern in New York.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.