EU-Sondergipfel "erfolglos": Bratislava legt Spaltung offen

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Die Staats- und Regierungschefs fanden nur wenige gemeinsame Nenner: einer war ein eher unkonkreter Fahrplan für die Brexit-Verhandlungen.

Bratislava. Der Weg zum Brexit führt über Bratislava - das informelle Treffen der 27 Staats- und Regierungschefs der EU unter Ausschluss Großbritanniens in der slowakischen Hauptstadt am Freitag hatte zwar nicht den Abschied der Briten von Europa zum Dreh- und Angelpunkt der Gespräche gemacht, doch ohne das Votum gegen die EU-Mitgliedschaft wären die Entscheidunsträger der Union wohl nicht nach Bratislava gereist, um sich Gedanken über die Zukunft der Union zu machen. Ursprünglich hatte man sich die inhaltliche Latte relativ hoch gelegt und mit der Idee einer Neuerfindung der EU kokettiert - so hatten beispielsweise die polnische und die ungarische Regierung einen eigenen großen Reformplan versprochen.

Noch bevor die EU-Granden am frühen Freitagabend vor die Fernsehkameras traten, um die Gipfelergebnisse zu präsentieren, stand allerdings schon fest, dass es einen großen Wurf - wieder einmal - nicht geben wird. Selbst der vollmundig angekündigte Plan der Visegrad-Länder (neben Polen und Ungarn gehören Tschechien und Gastgeber Slowakei der Gruppierung an) entpuppte sich als eine inhaltlich kalorienarme Forderung nach "flexibler Solidarität", was im Klartext bedeutet, dass die Mittel- und Osteuropäer im Zusammenhang nicht mit Forderungen nach Aufnahme von Flüchtlingen behelligt werden möchten.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán bezeichnete den Sondergipfel danach als Misserfolg. "Er war insofern erfolglos, als dass es nicht gelungen ist, die Einwanderungspolitik Brüssels zu ändern", sagte der rechts-konservative Politiker nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur MTI am Freitagabend vor ungarischen Journalisten in Bratislava.

Brexit-Antrag im Jänner oder Februar 2017

Zur Causa Brexit hieß es seitens EU-Ratspräsident Donald Tusk in Bratislava nur, er rechne mit einem Antrag aus London Anfang 2017.  Die britische Regierungschefin Theresa May habe bei seinem Besuch in London kürzlich sehr offen darüber geredet, dass es fast unmöglich sei, den Austritt noch dieses Jahr zu beantragen, so Tusk. "Aber es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sie vielleicht im Jänner, vielleicht im Februar nächsten Jahres bereit sind."

Während die Causa prima also weitgehend ausgeklammert wurde, da man nicht mit London parlieren will, so lange die Briten keinen Austrittsantrag gestellt haben, bemühte man sich zwischen Burg, Kongresszentrum und Donau-Kreuzfahrt nach Kräften, in der Europapolitik einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden.

Bratislava-Agenda

Dieser war in der Tat nicht sonderlich groß und beschränkte sich größtenteils auf die Vorschläge, die Jean-Claude Juncker in seiner Rede zur Lage der Union am vergangenen Mittwoch gemacht hatte. Der EU-Kommissionspräsident habe "richtige Schwerpunkte gesetzt", lobte Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel im Anschluss an den Gipfel, der Rat werde nun auf dieser Basis eine "Bratislava-Agenda" für die kommenden Monate erarbeiten. Dieser Reform-Reigen hat drei Etappen: Auf die regulären Gipfel im Oktober und Dezember folgt im Februar 2017 ein informelles Treffen der EU-27 in Maltas Hauptstadt Valletta. Und pünktlich zum 60. Jahrestag der Römer Verträge, dem Grundstein der heutigen EU, soll bei einem weiteren Treffen in Rom im März eine konkrete Reformliste vorliegen - wobei es laut Merkel nicht um "große Erklärungen oder Vertragsänderungen" gehen werde, sondern um konkrete, umsetzbare Maßnahmen.

Die Schwerpunkte lauten Verteidigung, Grenzschutz, Migration, Wachstum. Gestern legte Juncker nach und präsentierte den Staats- und Regierungschefs seinen 14 Punkte umfassenden Reform-Fahrplan. Inhaltliche Neuerungen waren darin nicht zu finden, allerdings präzisierte der Kommissionschef die zeitliche Abfolge der beabsichtigten Reformen. Demnach soll die Aufstockung des europäischen Investitionsfonds EFSI samt Verlängerung seiner Laufzeit spätestens im März 2017 unter Dach und Fach sein. Was die Grenzsicherung anbelangt, will man bis Jahresende die Einführung eines Registriersystems für Nicht-EU-Bürger an den Außengrenzen der Union fixieren, spätestens im Juni 2017 soll der Start des automatischen Reiseinformationssystems ETIAS beschlossen sein - Nicht-EU-Bürger sollen sich künftig noch vor ihrer Reise nach Europa online registrieren. Bereits ab dem kommenden Monat will die EU Bulgarien bei der Sicherung seiner Außengrenze mit 200 Beamten und 50 Fahrzeugen verstärken - als "vorbeugende Maßnahme" für den Fall, dass der Pakt mit der Türkei zur Eindämmung der Flüchtlingskrise in die Brüche gehen sollte, wie es Bundeskanzler Christian Kern formulierte. Außerdem stellt die EU den Bulgaren 108 Mio. Euro für Investitionen in Grenzsicherung zur Verfügung.

Punkto Verteidigung dient ein deutsch-französisches Positionspapier als Blaupause, über das in Bratislava gesprochen wurde, und das unter anderem ein permanentes EU-Hauptquartier sowie logistische Kooperation vorsieht - mit konkreten Beschlüssen seitens Rat und Europaparlament rechnet der Kommissionspräsident ebenfalls bis Mitte 2017. Doch bereits hier waren am Freitag erste Bruchlinien sichtbar: So verwahrte sich Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite gegen die Doppelung von Strukturen, die bereits im Rahmen der Nato vorhanden sind, Spekulationen über die Gründung einer EU-Armee seien ein "Missverständnis". Etwas anders sah die Angelegenheit Grybauskaites französischer Kollege Francois Hollande: Sein Land könne nicht im Alleingang Europa verteidigen. "Wenn die Vereinigten Staaten sich entscheiden sollten, auf Distanz zu gehen, muss Europa in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen", sagte Hollande.

Das inhaltliche Understatement der EU-Granden hat aber auch einen anderen Grund: Sie wissen nicht recht, wohin die Reise gehen soll - außer, dass man "mit 27 Mitgliedern einen Erfolg aus der EU machen" wolle, wie es in der Abschlusserklärung hieß. Selbst darüber, in welcher Tonlage die Gespräche in Bratislava geführt werden sollen, war man sich zunächst einmal nicht hundertprozentig einig, denn nicht jeder Gast teilte gestern den Wunsch des Ratspräsidenten Donald Tusk nach "brutaler Ehrlichkeit". Das dahinter liegende Problem ist, dass sich zwei Fronten quer durch Europa ziehen. Der erste Frontverlauf trennt den krisengeplagten Süden der Union, der auf eine Lockerung der Sparauflagen drängt und die Konjunktur mit Krediten ankurbeln will, von den Gläubigern im Norden, die auf strukturelle Reformen drängen und von einer gemeinsamen Verantwortung für alle Schulden nichts wissen wollen. Und die zweite Front trennt die Mitgliedstaaten Mittel- und Osteuropas, die im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise nicht in die Pflicht genommen werden wollen. Angesichts dieser Ausgangslage gibt es de facto nur ein einziges Erfolgsrezept: sich auf gemeinsame Vorhaben konzentrieren, die unumstritten sind, wenig kosten und möglichst viel bringen, und ansonsten ja keine schlafenden Hunde wecken.

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