Berlin: Die Wachstumsschmerzen der deutschen Hauptstadt

The Brandenburg Gate is seen during sunset in Berlin
The Brandenburg Gate is seen during sunset in Berlin(c) REUTERS (Fabrizio Bensch)
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In der Hauptstadt regiere das Chaos, heißt es vor der Berlin-Wahl am Sonntag. Und ganz falsch ist das nicht. Über eine Metropole, die ihren Boom nicht wirklich zu verkraften scheint.

Berlin. Die Geschichte, die jetzt, da Berlins Abgeordnetenhaus neu gewählt wird, wieder gern erzählt wird, in den Zeitungen und auf der Straße, ist die Geschichte von der Dysfunktionalität der deutschen Hauptstadt. Berlin – das ist die Stadt, in der man monatelang auf einen Termin beim Bürgeramt warten muss. In der man keine Wohnung bekommt oder viel Geld dafür bezahlen muss. In der Flüchtlinge wochenlang im Sozialamt campieren müssen, weil man es nicht schafft, sie zu registrieren.

Es ist die Stadt der Hausbesetzer und Drogendealer. Die Stadt, die seit vier Jahren erfolglos versucht, einen Flughafen zu eröffnen (BER). Die Stadt, in der Eltern ihr Wochenende in der Schule verbringen, um das Klassenzimmer ihres Kindes einigermaßen unterrichtstauglich zu machen.

So. Und warum ziehen dann jedes Jahr 40.000 Menschen nach Berlin? Und wie hat es diese chaotische Stadt geschafft, London den Rang als Europas Start-up-Metropole abzulaufen? So schlecht kann Berlin also nicht sein.

Rudy Giuliani, der ehemalige Bürgermeister von New York, sprach bei seinem Berlin-Besuch im Juni von „guten Problemen“. Mehr Menschen, mehr Verkehr, steigende Preise – das seien die Sorgen einer prosperierenden Stadt. Dieser Mann sollte es wissen.

Berlins Problem ist, dass es seinem eigenen Wachstum nicht hinterherkommt. Die Stadt wird von neuen Einwohnern regelrecht überschwemmt, was nicht nur die Politik und die Verwaltung überfordert. Jene Bürger, die schon lang da sind, fühlen sich seltsam fremd zwischen Touristen und neuen Nachbarn. Dabei ist das noch nicht alles. Bevölkerungsprognosen gehen davon aus, das Berlin in den nächsten zehn, 15 Jahren die Grenze von vier Millionen Einwohnern überschreiten wird. Womöglich schon früher.

Ende des rot-roten Sparkurses

Im Alltag des Einzelnen macht sich das natürlich bemerkbar, auf unterschiedliche Weise. Die Grundstückspreise sind hoch wie nie, die Mieten in sechs Jahren um 26 Prozent gestiegen, stärker als in München oder Hamburg. Und bei den Ämtern gibt es Menschenstau.

Beinahe hätte auch die Wahl verschoben werden müssen, weil die Behörden mit einem antiquierten Computersystem zu kämpfen haben. Die Landeswahlleiterin warnte schon, die Wahl könnte angefochten werden, wenn sich Neubürger nicht rechtzeitig ins Wählerregister eintragen können. Irgendwie hat man es dann doch geschafft. Immerhin. Ist ja in Europa derzeit keine Selbstverständlichkeit.

Es gibt aber auch gute Nachrichten. Der Tourismus boomt – 2015 haben 32 Millionen Menschen Berlin besucht. Die Wirtschaft wächst. Und der Schuldenberg der Stadt ist mit knapp 60 Milliarden Euro zwar immer noch unglaublich hoch, aber seit 2011 um drei Milliarden gesunken. Auch heuer erwartet der Finanzsenator einen Überschuss von 390 Millionen.

Das schafft Spielraum für Investitionen. Pro Jahr sollen 20.000 neue Wohnungen entstehen. Die Stadt hat Tausende neue Stellen geschaffen, für Verwaltungsbeamte, Straßenbahnchauffeure, Lehrer, Polizisten. Und nächstes Jahr endet angeblich auch die Neverending-Flughafenstory, wenn BER dann tatsächlich eröffnet wird.

Vielen geht das allerdings nicht schnell genug, und deshalb ist die rot-schwarze Landesregierung um Bürgermeister Michael Müller und Innensenator Frank Henkel, den Spitzenkandidaten der CDU, so unbeliebt wie kaum eine andere Landesregierung in Deutschland. Sie hat allerdings auch ein schweres Erbe angetreten. Die damals noch rot-rote Regierung aus SPD und Linkspartei unter Bürgermeister Klaus Wowereit und Finanzsenator Thilo Sarrazin hat der Stadt im Jahr 2004 einen strengen Sparkurs verordnet. Städtischer Besitz wurde privatisiert, unter anderem die Wohnbaugesellschaft GSW. Das hat dazu beigetragen, die Schulden zu senken. Aber auf Kosten von Schulen, Schwimmbädern, Bibliotheken und leistbaren Wohnungen.

Bei einer Wahlkampfveranstaltung vor Kurzem wurde Michael Müller, seit Dezember 2014 im Amt, von einer Wählerin für diese Politik kritisiert. Wann das endlich aufhöre, wollte sie wissen. Als der Bürgermeister entgegnete, man habe längst wieder zu investieren begonnen, war die Frau nicht sicher, ob sie ihm das glauben soll. Das Sparpaket des vergangenen Jahrzehnts hat die Wähler nachhaltig verstört, vor allem jene der SPD, die seit 27 Jahren Teil der Stadtregierung ist.

Dementsprechend lesen sich auch die jüngsten Umfragen: Die SPD wird am Sonntag von 28,3 auf bestenfalls 24 Prozent zurückfallen. Die CDU dürfte nicht einmal mehr auf 20 Prozent kommen und könnte von den Grünen überholt werden.

Eine Große Koalition würde sich auch dann nicht mehr ausgehen, wenn die beiden Parteien miteinander weitermachen wollten. Müller will aber nicht. Er bevorzugt die Grünen. Nur wird auch eine rot-grüne Koalition keine Mehrheit haben – wie jedes andere Zweierbündnis. Und deshalb sieht es derzeit nach Rot-Rot-Grün aus.

„Berlin wie Manhattan“

Der Blick von außen ist optimistischer, als es die aktuellen politischen Verhältnisse vermuten lassen. Ob er eigentlich lachen müsse, wenn er höre, dass Berlin ein bisschen so tue, als wäre es Manhattan, wurde Rudy Giuliani im Juni vom „Tagesspiegel“ gefragt. „Nein“, antwortete der ehemalige New Yorker Bürgermeister. „Ich finde sogar, dass Berlin und Manhattan sehr viel gemeinsam haben.“ Berlin sei eine großartige Weltstadt, die nicht zufällig so viele Menschen anziehe.

Ab Montag wird Müller beweisen müssen, dass seine Weltstadt auch gut geführt werden kann.

AUF EINEN BLICK

In Berlin wird am Sonntag das Abgeordnetenhaus neu gewählt. Daneben stimmen die 2,49 Millionen Wahlberechtigten auch über die zwölf Bezirksvertretungen ab. Die Zeit der rot-schwarzen Stadtregierung scheint abgelaufen. Nach der Wahl dürfte sich kein Zweierbündnis mehr ausgehen. Am wahrscheinlichsten ist Rot-Rot-Grün.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2016)

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