Damaskus und seine Verbündeten wollen eine militärische Eskalation, sagt der Journalist Darwish. Moskau räche sich an Europa.
Wien. Frieden für Syrien? Die Hoffnungen, die die von Russland und den USA vereinbarte Waffenruhe geweckt hatte, konnte der bekannte Journalist und Rechtsanwalt Mazen Darwish von vornherein nicht teilen. Der Angriff auf den Hilfskonvoi, das Aussetzen der Hilfslieferungen – das alles ist für ihn eine „natürliche Folge“ jener Kriegslogik, die in seinem Land nach wie vor regiert. „Das grundlegende Problem ist, dass alle Seiten ein Interesse daran haben, den Konflikt aufrechtzuerhalten“, sagte er vor Journalisten in Wien.
Vor allem dem Regime von Machthaber Bashar al-Assad und Russland, Damaskus' mächtigem Verbündeten, nimmt Darwish es nicht ab, dass sie sich ernsthaft auf Vereinbarungen einlassen. „Das syrische Regime und seine Unterstützer sind an einer Eskalation der militärischen Gewalt interessiert“ – um so mehr in diesen Monaten, in denen in den USA ein Vakuum herrsche, bis die neue Regierung an der Macht sei. Eine Gelegenheit, um sich einen militärischen Vorteil zu verschaffen. „Das syrische Regime will in dieser Zeit möglichst viele Siege einfahren.“
Als einer der bekanntesten Regimekritiker hat Darwish am eigenen Leib erfahren, wozu Assads Schergen imstande sind. Dreieinhalb Jahre hat er in syrischen Gefängnissen verbracht, weil er über die Aufstände gegen Assad und deren brutale Unterdrückung berichtete. Zeitweise wurde er zweimal am Tag gefoltert. „Folter um der Folter willen“, es habe keine Befragung gegeben, keine Beschuldigungen. Im August 2015 wurde Darwish freigelassen, heute lebt er im Exil.
Solange irgendeine Seite noch von dem Konflikt profitiere, könne er nicht beendet werden, ist der Aktivist überzeugt. Beispiel Russland: „Nach der Isolation wegen der Krim-Krise und der Ukraine hat der Syrien-Krieg Russland als globalen Akteur zurück auf die Weltbühne gebracht.“ Auch einen Vergeltungsgedanken vermutet Darwish hinter Moskaus Vorgehen: „So wie Europa Russland mit den Sanktionen bestraft hat, so bestraft Russland im Gegenzug die EU mit den Karawanen von Tausenden Flüchtlingen.“
Einzig in der EU sieht Darwish einen Akteur, der am baldigen Ende des Krieges Interesse hat. „Die europäischen Staaten bezahlen die Rechnungen für die Flüchtlinge in Europa, und sie bezahlen die Rechnungen dafür, dass Flüchtlinge in der Türkei und anderen Ländern der Region bleiben.“ Es sei Zeit, dass sich Europa stärker ins Spiel bringe.
Um ein Irak-Szenario zu vermeiden, fordert Darwish einen Marshallplan für Syrien. Wichtig sei auch, dass die staatlichen Institutionen intakt bleiben – auch wenn das hieße, dass Assad-Leute im Amt bleiben. Eines jedoch ist für Darwish unvorstellbar: eine Zukunft Syriens mit Assad selbst. „Von der Mehrheit der Syrer zu verlangen, Assad im Amt zu belassen, wäre wie von Israel zu verlangen, Hitler zum Premier zu machen.“
ZUR PERSON
Mazen Darwish, geb. 1974, ist ein vielfach ausgezeichneter Journalist und Gründer des syrischen Center for Media and Freedom of Expression. 2013 erhielt er den Bruno-Kreisky-Preis für Menschenrechte. In Wien war er zur Verleihung des Alfred Fried Photography Award 2016. [ IPI ]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2016)