Ben Moussa: "In Syrien wird Zivilisation zerstört"

Der tunesische Nobelpreisträger Abdessattar Ben Moussa fordert mehr internationale Unterstützung für sein Land.
Der tunesische Nobelpreisträger Abdessattar Ben Moussa fordert mehr internationale Unterstützung für sein Land. (c) imago/SKATA
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Nobelpreisträger und Menschenrechtler Abdessattar Ben Moussa über den tunesischen Weg zur Demokratie und den Arabischen Winter in Syrien, Libyen und Ägypten.

Die Presse: Im Gegensatz zu Ägypten und Libyen ist Tunesien das Land des Arabischen Frühlings, in dem der Sturz des Präsidenten auch zu einem erfolgreichen demokratischen Umbau führte. Was ist das Geheimnis von Tunesien?

Abdessattar Ben Moussa: Tunesien war immer eine Schnittstelle verschiedenster Zivilisationen. Tunesien hat schon 1846 die Sklaverei abgeschafft, also noch bevor sie in den gesamten USA abgeschafft worden ist. Wir sind eine sehr offene Gesellschaft und haben eine sehr gute und offene Bildungspolitik. Auch hinsichtlich der Stellung der Frau ist Tunesien sehr fortschrittlich. Im Gegensatz zu anderen arabischen Staaten wurde die Vielehe schon vor langer Zeit abgeschafft. Dazu kommen starke Organisationen der Zivilgesellschaft wie etwa unser Quartett des Nationalen Dialoges.

Aber auch in Ägypten war die Zivilgesellschaft am Aufstand 2011 beteiligt. Die Revolutionäre auf dem Tahrir-Platz bildeten eine breite Allianz aus linken, liberalen und islamistischen Kräften, doch sie ist später zerfallen. Warum konnten in Tunesien linke und islamistische Parteien wie Ennahda einen Ausgleich finden?

Ennahda – die islamistische Partei in Tunesien – war realistischer als die Muslimbrüder in Ägypten. Durch die starke Präsenz der Zivilgesellschaft in Tunesien wurde Ennahda zum Dialog gezwungen. Die Zivilgesellschaft hat einen Fahrplan für den politischen Transformationsprozess entwickelt, an den sich alle Parteien halten mussten. Das gab es in Ägypten nicht. In Kairo war der aus der Muslimbruderschaft stammende Präsident Mohammed Mursi nicht bereit zum Dialog. Und im Gegensatz zu Tunesien gibt es in Ägypten eine hochgerüstete Armee, die nach der Macht gegriffen hat.

Mittlerweile mehren sich die Stimmen, die sagen, dass der Arabische Frühling von 2011 weitgehend gescheitert sei und nun Arabischer Winter herrsche.

Ja, das stimmt leider. Es ist ein Winter, dessen starker Regen Zerstörung und Blutvergießen bringt. Wir haben Chaos in Libyen und in Syrien. Das hat auch zu einem Terrorismus geführt, den wir in dieser massiven Form nicht erwartet hatten. In Syrien werden nicht nur Gebäude zerstört, sondern auch die menschliche Zivilisation. Wir müssen dort retten, was noch zu retten ist. Terrorgruppen muss man natürlich bekämpfen, doch was die anderen Gruppen betrifft, so hilft nur Dialog.

Einerseits hat Tunesien große Fortschritte auf dem Weg zur Demokratie gemacht. Andererseits kommt die größte Gruppe ausländischer Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates (IS) aus Tunesien. Wie passt das zusammen?

Ich würde die tunesischen Kämpfer beim IS weniger als radikale Islamisten bezeichnen denn als Söldner. Darunter sind Ex-Häftlinge und junge Leute, die arbeitslos sind und sich für Geld den Extremisten angeschlossen haben. Aber klar ist: Diese Kämpfer für den IS stehen nicht für die tunesische Jugend, die Gewalt und Extremismus ablehnt.

Arbeitslosigkeit ist vor allem im Süden Tunesiens ein Problem. Kann die brennende soziale Frage die demokratischen Errungenschaften wieder zunichte machen?

Natürlich hat die schwierige soziale Lage Einfluss auf den Demokratieprozess. Als der Arabische Frühling losbrach, forderten die Menschen Freiheit, Gerechtigkeit, aber auch Arbeit und Brot. Leider ist es den bisherigen Regierungen nicht gelungen, diesen Wunsch zu erfüllen. Es gibt jetzt zwar Freiheit, es gibt aber keine Arbeit und kein Brot. Die mit uns befreundeten Staaten und die internationale Gemeinschaft rufe ich deshalb dazu auf, dass sie uns unterstützen. Viele ausländische Investoren sind aus Tunesien abgezogen, weil sie meinen, es sei nicht sicher. Nach den Terroranschlägen in Tunesien gab es Reisewarnungen europäischer Staaten. In Tunesien ist es aber seit einem Jahr ruhig geblieben. Es gab auch in Frankreich, Belgien und Deutschland Anschläge. Trotzdem wurden für diese Länder keine Reisewarnungen herausgegeben. Wenn man in Tunesien den Tourismus untergräbt, tut man uns nichts Gutes. Wir würden auch eine Umschuldung brauchen, weil die Schulden das Land erdrücken.

Haben Sie als Menschenrechtsaktivist Sorge, dass der Kampf gegen Terrorgruppen in Tunesien zu einer Beeinträchtigung der Menschenrechte führen könnte?

Ja, deshalb haben wir uns auch gegen das neue Antiterrorgesetz ausgesprochen. Es enthält Artikel, die Menschenrechtsverletzungen beinhalten. Einer besagt etwa, dass jemand 15 Tage ohne Anklage von der Polizei festgehalten werden darf statt bisher nur 48 Stunden. Das erhöht das Risiko für Folter.

ZUR PERSON

Abdessattar Ben Moussa ist Präsident der tunesischen Menschenrechtsliga. Gemeinsam mit drei weiteren Gruppen der Zivilgesellschaft bildet sie das Quartett für den nationalen Dialog. Ben Moussa und die anderen Vertreter des Quartetts erhielten 2015 den Friedensnobelpreis. Nun war Ben Moussa anlässlich der Verleihung des Alfred-Fried-Fotopreises zu Gast in Wien. Der vom österreichischen Fotoverleger Lois Lammerhuber initiierte und vom österreichischen Parlament mitorganisierte Preis prämiert jährlich die beste Fotografie zum Thema Frieden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2016)

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