Migrationsgipfel: Die Konflikte an der Balkanroute

A child looks through a window inside a camp for refugees and migrants in the Belgrade suburb of Krnjaca
A child looks through a window inside a camp for refugees and migrants in the Belgrade suburb of Krnjaca(c) REUTERS (MARKO DJURICA)
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Bundeskanzler Kern lädt Merkel, Tsipras, Orbán und die Regierungschefs Südosteuropas zum Treffen nach Wien. Die Probleme entlang der Westbalkanroute sind nach wie vor nicht gelöst.

Es ist ein dichtes Programm, das sich die Spitzenvertreter zehn europäischer Staaten für Samstag vorgenommen haben. Denn das Treffen im Bundeskanzleramt am Ballhausplatz soll nur etwa vier Stunden dauern. Österreichs Bundeskanzler, Christian Kern, hat dazu Deutschlands Kanzlerin, Angela Merkel, sowie die Regierungschefs Griechenlands, Ungarns, Rumäniens, Bulgariens und der Westbalkanstaaten nach Wien geladen, um über die Flüchtlingskrise auf der Westbalkanroute zu beraten. Dabei sollen drei große Themenfelder besprochen werden: der Schutz der EU-Außengrenze, der Flüchtlingspakt mit der Türkei und mögliche ähnliche Abkommen mit anderen Ländern – etwa Staaten Nordafrikas. Von dort machten sich zuletzt nämlich wieder mehr Flüchtlinge in Richtung Italien auf. Kern hatte deshalb auch kurz daran gedacht, Italiens Premier, Matteo Renzi, einzuladen. Das hätte aber das Format der Konferenz gesprengt. Konkrete Beschlüsse sind nicht geplant. Zu besprechen gibt es aber einiges. Denn derzeit tun sich auf der Balkanroute folgende Problemfelder auf:

1. Rückstau in Griechenland nimmt weiter zu, Verteilung funktioniert nicht

Trotz eines deutlichen Rückgangs an Ankommenden aus der Türkei wächst der Rückstau in Griechenland. Dort halten sich (Stand 13. 9.) mehr als 60.000 Migranten auf. Die Kapazität der Auffanglager reicht nicht aus. Erst am gestrigen Freitag kam es auf der Insel Chios zu Krawallen, bei denen vier Menschen verletzt wurden. Pro Woche kommen laut dem UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR bis zu 700 Neuankommende hinzu. Die griechischen Behörden können aber nur 200 Asylprüfungen im Monat abarbeiten. Die Verteilung auf die anderen EU-Staaten funktioniert schlecht. Von den vereinbarten 160.000 Flüchtlingen, die laut einem EU-Beschluss aus Italien und Griechenland auf andere Mitgliedstaaten verteilt werden sollen, sind bisher aus Griechenland lediglich 4140 Asylwerber von EU-Partnerländern übernommen worden.

2. Balkanstaaten erwarten neuen Andrang, Schlepperwesen nimmt zu

Die Balkanstaaten fürchten, dass vor allem im Herbst wieder mehr Flüchtlinge in Ländern hängen bleiben könnten. Seit Ungarn sein Grenzregime verschärft hat, ist die Zahl der in Serbien gestrandeten Flüchtlinge wieder von 2000 auf bis zu 7000 gestiegen, Tendenz steigend. Für die winterfeste Unterbringung dieser Menschen fehlen den Balkanländern weitgehend die Mittel. Immer mehr Flüchtlinge, die auf der Balkanroute nicht mehr weiterkommen, versuchen laut UNHCR eine irreguläre Weiterreise mithilfe von Schleppern. Es gibt Hinweise, dass Flüchtlinge vermehrt eine neue Route über Albanien und den Kosovo nehmen.

3. Ungarn blockiert die Einreise von Flüchtlingen und verweigert die Rücknahme

Das Vorgehen der ungarischen Regierung bleibt umstritten. Budapest lässt pro Tag nur 30 Flüchtlinge ins Land, deshalb sind bereits Hunderte in Transitzonen gestrandet. Menschenrechtsorganisationen kritisieren nicht nur hohe Zäune, sondern auch das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Flüchtlinge. Dazu kommt, dass Ungarn das Gros der Menschen ohne Prüfung eines Asylgrundes nach Österreich weiterziehen lässt. Die Regierung in Budapest fühlt sich für diese Menschen nicht zuständig und ist auch nicht bereit, sie entsprechend der Dublin-Verordnung zurückzunehmen. Die Verordnung sieht vor, dass Flüchtlinge in jenem Land ihren Asylantrag stellen müssen, in das sie erstmals in die EU eingereist sind. Obwohl Griechenland bereits völlig überfordert ist, geht Ungarn davon aus, dass dort eigentlich die Verfahren hätten stattfinden müssen. Neben Österreich erwägen auch nordeuropäische Staaten deshalb eine Klage gegen Ungarn, das Sonntag, den 2. Oktober, ein Referendum zur Aufnahme von Flüchtlingen abhält. Es wird – so wie von der Regierung vorgeschlagen – mit einer klaren Ablehnung einer verbindlichen EU-Quotenregelung gerechnet.

4. Österreichs Notverordnung würde neue Barriere schaffen und ist rechtlich umstritten

Nach Ungarn könnte auch Österreich eine Klage der EU-Partner und von Flüchtlingen drohen, sollte es die angekündigte Notverordnung realisieren. Diese würde die Zahl der Flüchtlinge in diesem Jahr auf 37.500 begrenzen. Nach derzeitigen Zahlen wäre dies im November erreicht. Das UNHCR warnt vor einer „Abkehr vom Flüchtlingsschutz“, Experten sehen Widersprüche zur Genfer Flüchtlingskonvention. Die Regierung argumentiert mit einem Notstand und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Nachbarstaaten wie Slowenien fürchten einen Rückstau an der Grenze. (wb, ws, cu)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2016)

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