Was blieb vom Deal mit der Türkei?

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Das Abkommen der EU mit Ankara vor einem halben Jahr hat die Flüchtlingszahlen deutlich reduziert. Einer der Hauptgründe dürfte die Signalwirkung gewesen sein.

Wien. Es ist ein gutes halbes Jahr her, als das bis heute heftig diskutierte Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei abgeschlossen wurde. Im Wesentlichen sah es vor, dass ab 20. März alle illegalen Migranten, die auf den griechischen Inseln ankommen, in die Türkei zurückschickt werden. Im Gegenzug werden Syrer in der EU aufgenommen. Zugleich setzt Ankara Maßnahmen, um neue See- oder Landrouten für Schlepper zu unterbinden. Schließlich wird der Deal auch mit der Visumliberalisierung für die Türken verknüpft. Was hat das Abkommen tatsächlich gebracht? Welche Auswirkungen gab es auf die Flüchtlingsströme? Wie viel lässt sich die EU das kosten?

1. Wie hat sich das Abkommen auf die Flüchtlingsströme ausgewirkt?

Vom 18. März bis zum Stichtag 20. September sind laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR 17.505 Personen auf den griechischen Inseln angekommen. Das sind im Schnitt knapp 3000 pro Monat. Im Vergleich zu den ersten beiden Monaten dieses Jahres, als noch 124.000 Menschen mit Booten nach Griechenland kamen, eine drastische Reduktion.

2. Das heißt, das Abkommen hat tatsächlich einiges bewirkt.

Neben dem deutlichen Rückgang der Flüchtlingszahlen ist positiv zu vermerken, dass seit April „nur mehr“ 17 Menschen in der Ägäis ums Leben kamen, in den ersten drei Monaten des Jahres waren dies 366 Flüchtlinge. Viele Asylexperten sind aber der Meinung, dass das Abkommen vor allem deshalb wirkt, weil es – zusammen mit der Sperre der Balkanroute – abschreckende Wirkung hat. Zudem sei mittlerweile der türkische Arbeitsmarkt für Flüchtlinge geöffnet worden, was manche zurückhielte. Außerdem, so das Argument, sei ein Großteil der Flüchtlinge, die finanzielle Ressourcen hatten, schon vergangenes Jahr nach Europa gekommen.

3. Wie viele Flüchtlinge wurden in die Türkei zurückgeschickt?

Auf den griechischen Inseln warten derzeit 11.700 Personen. Das Problem ist laut UNHCR nach wie vor, dass diese Menschen teilweise noch gar nicht im Zulassungs- oder Asylverfahren sind und auf ihre Registrierung und ihre Interviewtermine warten. Außerdem wird bei den Asylverfahren durch die Berufungskommission derzeit fast immer gegen eine Rücksendung entschieden, weil es für die Betroffenen in der Türkei nicht sicher sei.

Gegen seinen Willen wurde noch kein Flüchtling zurückgeschickt. Die 502 Personen, die bis dato zurückgebracht wurden, gingen freiwillig, weil sie es sich angesichts eines mühsamen Prüfungsprozesses im letzten Moment noch überlegt hatten und den Asylantrag zurückzogen. Dies betrifft aber nur das Abkommen Türkei/EU. Unter anderen griechischen Abkommen werden sehr wohl Personen wieder abgeschoben. So wurden etwa 3000 Wirtschaftsflüchtlinge per Boot zurückgeschickt.

4. Wie viele Syrer wurden im Gegenzug in der EU aufgenommen?

Im EU/Türkei-Abkommen heißt es, dass für jeden zurückgeschickten Syrer im Gegenzug ein syrischer Flüchtling in der EU aufgenommen wird. Angesichts der geringen Aufnahmebereitschaft in Europa ist dies schwierig. Immerhin wurden im Zuge des Deals mit Stand 20. September 1614 Flüchtlinge in EU-Länder gebracht. Deutschland nahm die meisten, vor Schweden. Österreich hat sich diesmal verweigert. Organisatorisch läuft dies so, dass die türkischen Behörden auf Basis bestimmter Kriterien eine Liste von Kandidaten vorlegen, diese wird dann vom UNHCR geprüft und schließlich an die EU-Staaten weitergegeben, die die endgültige Auswahl treffen.

5. Sind die Drohungen, den Deal platzen zu lassen, ernst zu nehmen?

Ankara fordert eine rasche Visumliberalisierung, andernfalls will es den Deal platzen lassen. EU-Vertreter sind sich sicher, dass es nicht so weit kommt. Denn für die Türkei steht finanziell einiges auf dem Spiel. Drei Mrd. Euro sind in der ersten Phase vorgesehen; bis Ende 2018 weitere drei Mrd. Bisher wurden nach EU-Angaben 650 Mio. Euro überwiesen, weitere 600 Mio. sollen bis Ende September folgen. Die für Juni versprochene Visumliberalisierung wurde von EU-Seite vorerst auf Anfang 2017 verschoben.

AUF EINEN BLICK

EU/Türkei-Deal. Das vor einem halben Jahr vereinbarte Abkommen hat eine drastische Reduktion der Flüchtlingsankünfte auf den griechischen Inseln bewirkt. Die meisten Vereinbarungen des Deals sind bisher nur sehr rudimentär ausgeführt worden. Ankara wartet im Gegenzug auf eine Visumliberalisierung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2016)

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