Ukraine: Wo Kohlen und Geschosse glühen

Alltag im Donbass: Gefechte in der Nacht, eine trügerische Ruhe untertags.
Alltag im Donbass: Gefechte in der Nacht, eine trügerische Ruhe untertags.(c) imago/Xinhu
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Das Städtchen Awdiiwka am Rande von Donezk wird fast jede Nacht beschossen. Der Grund, warum hier Menschen ausharren, ist ein riesiges Kombinat des Oligarchen Rinat Achmetow.

Awdiiwka. Aus der Batterie kullern glühende Koksstücke auf einen Waggon, eine 1000 Grad heiße, orange-rot glimmende Masse, die alles versengt, was es wagt, in ihre Nähe zu kommen. Der Waggon setzt sich in Bewegung und fährt die Ladung unter den Löschturm. Ein Wasserschwall auf die glühenden Stücke, es zischt und faucht und stinkt, und eine dichte, weiße Rauchwolke stößt hinauf in den Himmel. Lena Krawtschenko, 44 Jahre alt, das blonde Haar unter dem Schutzhelm, steht daneben und kontrolliert den Abtransport des gelöschten Kokses. Ein paar Meter weiter ist die Batterie bereits nachgefüllt, die nächste Ladung wird gebrannt. Der Kohlenstaub legt sich in die Ohren, er knistert im Mund und fliegt in die Lunge. Fragen nach der Gesundheit entlocken Lena Krawtschenko ein Lachen, die Bedenken drückt sie so schnell weg wie den Waggoninhalt mit dem Kontrollknopf. Das Glühen der Kohlen bedeuten Geld und Leben für 3847 Arbeiter und ihre Familien. Solange das Feuer lodert, ist Awdiiwka noch nicht verloren.

Awdiiwka im ostukrainischen Donbass: Hier liegt eine der größten Kokereien Europas. Sie gehört der Firma Metinvest und damit dem Oligarchen Rinat Achmetow. Jeder fünfte oder sechste Einwohner Awdiiwkas arbeitet bei "Koksohim", wie das Kombinat hier kurz genannt wird, dessen Rauchfänge und Werkshallen in den Bodenwellen des Donbass weithin sichtbar ist. Doch die scheinbar endlose Ebene ist voller unsichtbarer Grenzen. Eine liegt ein paar Kilometer weiter südlich des Kombinats. Es ist die Frontlinie, an der geschossen wird. Auch die neue Waffenruhe, in Kraft seit Anfang September, wird in Awdiiwka Nacht für Nacht gebrochen.

Musa Magomedow ist Zeuge der nächtlichen Schießduelle. Der Direktor des Kombinats ist ein jugendlich wirkender 46-Jähriger in Chiemsee-T-Shirt und löchrigen Blue Jeans. Magomedow stammt aus dem russischen Dagestan, studierte in Donezk und wurde, wie er sagt, „wegen der Mädchen und der Rosen“ hier heimisch. Donezk, hier bekannt als die Stadt der Rosen, grenzt an Awdiiwka. Donezk war die Metropole, in der man einkaufte, ausging oder, wie Magomedow, wohnte. „In elf Minuten war ich in meinem Haus“, sagt er. Jetzt müsste er die Frontlinie überqueren, um es zu erreichen. Magomedow lebt auf dem Fabriksareal. Auch das Betreiben der Kokerei ist gefährlich geworden.

Die Schwerindustrie des Donbass ist eng verzahnt: Kohlegruben beliefern die Kokereien, die den Koks wiederum an Stahlwerke ausführen. Der Krieg hat den Produktionszyklus gestört. Früher bezog die Kokerei einen Gutteil ihrer Kohle aus Krasnodon aus einer Achmetow-Grube. Jetzt kommen die Lieferungen nur noch unregelmäßig: Krasnodon liegt im Inneren des Separatistengebiets. Die Eisenbahn ist aufgrund von Beschuss immer wieder defekt. „Wann geliefert wird, ist absolut unvorhersehbar“, klagt Magomedow. „So können wir nicht planen, es ist zu riskant.“

7500 Tonnen Koks werden täglich in Awdiiwka produziert, möglich wären 12.000 Tonnen. Kam früher die Hälfte der Kohle aus der Ukraine, musste sie nun durch Importe aus den USA und Australien ersetzt werden. Die Kohlelieferungen aus dem Separatistengebiet sind in der Ukraine ein Politikum: Viele empören sich, dass Achmetow Geschäfte dies- und jenseits der Kontaktlinie macht. Anders als bei anderen ist sein Eigentum von den Separatisten nicht konfisziert worden, das befeuert Gerüchte über mögliche Deals mit den prorussischen Lokalherren. Mit Arbeitserschwernissen hat Achmetow jetzt dennoch zu kämpfen: Für jede Lieferung ist eine Bewilligung aus Kiew notwendig. Magomedow wehrt sich gegen Kritik: „Unsere Unternehmen sind in der Ukraine registriert und zahlen hier Steuern. Unsere Mitarbeiter erhalten pünktlich ihre Löhne. Nur weil sie auf der anderen Seite sind, sind aus ihnen doch keine schlechteren Menschen geworden.“

Musa Magomedow ist nicht einfach ein Manager der Fabrik, er managt Awdiiwka. Er kennt die Bevölkerungszahl – 22.000 statt früher 36.000, und er weiß, wie viele Kinder in die Schule gehen, 3000 sind es. Auf Plakaten wünscht er Frieden und Stabilität, anlässlich des Stadt-Feiertags hält er Reden. Sein Werk renoviert im Ort Schulen, Krankenhäuser und Wohnungen, stellt Fahrradständer auf und stellt sicher, dass im Winter die Heizung nicht ausgeht. Das alles kostet mehrere Millionen Hrywnja, Rinat Achmetow, selbst aus Donezk stammend, macht es möglich.

Schutzsuche in der Fabrik

Zur schlimmsten Zeit übernachteten die Arbeiter und ihre Familien in den Luftschutzbunkern des Kombinats. Kein Wunder, dass die Mitarbeiter Magomedow als ihren Schutzpatron betrachten. Er kann sie vor dem Krieg beschützen. Eines aber kann selbst er nicht: Die Front verschieben.

Ein paar Kilometer weiter südlich, am alten Teil von Awdiiwka. Die Kämpfe haben sich seit einigen Monaten in die nahe Industriezone verlagert. Während die Menschen ins Stadtzentrum zurückkehren und neue Fenster einsetzen, befindet sich hier das Epizentrum der nächtlichen Schießduelle. In der Promka, so nennen sie die Kämpfer, liegen keine 150 Meter zwischen den verfeindeten Stellungen. Die Kanonaden beginnen nachts, wenn die Beobachter der OSZE längst weg sind. Die seit 1. September offiziell wieder einmal ausgerufene Feuerpause wird in der Prompka ignoriert. Kalaschnikow, Mörser, schwere Artillerie, in einer der September-Nächte ist all das im Einsatz. Das Kriegskonzert findet unter sternenbehangenem Himmel statt und dauert mehrere Stunden bis zum Morgen.

Nach der unruhigen Nacht macht Jewgenij Dejdej einen Frontbesuch bei seinen Kämpfern. Auch er wurde Zeuge der Kanonade. „Das ist die Feuerpause, von der wir reden“, sagt er sarkastisch. Dejdej, 29, trägt Militärkleidung, eine Kalaschnikow und einen gut gepflegten Vollbart. Er ist Parlamentsabgeordneter der Volksfront und Kurator des Regiments Kyiw, das als Freiwilligenverband begann und mittlerweile als Spezialeinheit dem Innenministerium beigeordnet ist. Die Kyiw-Kämpfer stehen an Straßensperren und bezeichnen sich als Spezialisten für Ortskampf. Manchen gelten sie als Privatarmee von Innenminister Arsen Awakow. In Awdiiwka versehen 40 junge Männer Dienst. Sie haben ein früheres Wohnhaus am Rande der Stadt in Beschlag genommen, von Stacheldraht umgrenzt, ein improvisierter Compound. Die früheren Besitzer sind verschwunden. Wohin? Schulterzucken. Die Lokalen gehen ihnen aus dem Weg. Das Misstrauen ist groß. Verrat liegt in der Luft, es gibt Sympathisanten der Separatisten hier. „Jeder Zweite gibt unsere Koordinaten durch“, behauptet Dejdej, der nicht viel von einer Waffenruhe hält. Auf die Frage, wie man wieder gemeinsam leben könne, hat er eine klare Antwort: „Nur in der Eigenschaft als Sieger.“ Doch der Sieg zeichnet sich an dieser Front nicht ab. Also weiter nächtliche Scharmützel.

„Jemandem nutzt der Krieg“

In Awdiiwka wollen alle nur das eine, Frieden nämlich, doch niemand weiß, wer ihn bringen soll. Niemand kann ihn herbeischaffen, nicht Kombinatschef Musa Magomedow, nicht die Kyiw-Kämpfer, schon gar nicht die OSZE. „Jemandem nutzt der Krieg“, ist die lokale Überzeugung. Damit ist alles und nichts gesagt.

Im Ortszentrum haben Bürger ein improvisiertes Denkmal errichtet: eine simple Platte mit Nekrologen, darunter stapeln sich Geschossteile. Mehr als 50 Zivilisten sind in Awdiiwka seit Sommer 2014 getötet worden. Einer davon ist Viktor Rasuwajew, geboren am 12. Dezember 1994, ein junger Mann mit braunen Augen und vollen Lippen. Unter seinem Foto steht: „Talentierter Künstler. Gewinner des Metinvest-Bewerbs ,Die Farben von Erz, Kohle und Metall‘. Am Abend des 3. September 2014 schwerer Beschuss der Stadt, des Krankenhauses, der Schule Nummer 7. Es gab kein Licht. Er war nicht zu retten.“

LEXIKON

Donbass. Im Donezbecken wird seit dem 18. Jahrhundert Kohle abgebaut. Die Lagerstätten waren eine wichtige Voraussetzung für den Ausbau des russischen Eisenbahnnetzes gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In den 1930er-Jahren arbeiteten viele deutsche Bergleute hier. Heute sind viele Industriebetriebe in der Region wegen fehlender Investitionen und wegen des Kriegs stillgelegt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2016)

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