Die Einkommen steigen hurtig, die Armut sinkt, die Börsen florieren – doch zwei Drittel der Amerikaner finden, ihr Land sei auf dem falschen Weg. Die Gründe dafür divergieren.
Washington. „The system is rigged.“ Kaum einen Satz hört man im heurigen amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf öfter als diesen Vorwurf, das politische und wirtschaftliche System der Vereinigten Staaten sei auf unfaire Weise gegen die Kleinen und Armen ausgerichtet. Von ganz links bis ganz rechts erklingt diese Anklage; Bernie Sanders, der Sozialist aus Vermont, führte sie in seinem Vorwahlduell mit Hillary Clinton ebenso, wie es der laut eigenen Aussagen milliardenschwere New Yorker Immobilien-Tycoon Donald Trump tut.
Die Demoskopie stützt dieses Unmutsgefühl. In einer im Februar veröffentlichten Umfrage des Pew Research Center taten 65 Prozent kund, dass das amerikanische Wirtschaftssystem auf unfaire Weise mächtige Interessenträger bevorzuge. Nur 31 Prozent befanden, dass das System grundsätzlich fair für die meisten Amerikaner sei.
Starker Einkommensanstieg
Diese Unzufriedenheit über die ökonomischen Zustände fließt in jene pessimistische Grundstimmung ein, derzufolge die USA auf dem Holzweg sind. Regelmäßig wird abgefragt, ob das Land sich in eine gute Richtung entwickelt oder nicht. Und seit mehr als sieben Jahren meint stets eine klare Mehrheit, dass es mit Amerika bergab gehe: 64,8 Prozent sehen die USA auf einem schlechten Weg, 28,6 Prozent sind dagegen optimistisch, wie der von Real Clear Politics erhobene Durchschnitt aller einschlägigen Umfragen zeigt. Einzig Anfang Juni 2009 lagen Optimisten und Pessimisten gleichauf.
Die fatalistische Meinung der amerikanischen Öffentlichkeit steht allerdings in scharfem Kontrast zu den jüngsten Wirtschaftsdaten. Der Einkommens- und Armutsbericht der US-Statistikbehörde legte zum Beispiel offen, dass die mittleren Familieneinkommen im Jahr 2015 um 5,2 Prozent gestiegen sind – so stark, wie sie das seit Beginn der Erhebung dieser Zahl Ende der 1960er-Jahre nicht getan haben („Die Presse“ berichtete).
Diese Nachricht war von fundamentaler Bedeutung, denn sie belegte, dass die USA die schweren finanziellen und sozialen Folgen der großen Rezession beinahe ganz verarbeitet hat. Hier wurden nämlich nicht, wie sonst oft, die Durchschnittseinkommen untersucht; sie werden von Extremwerten verzerrt. Der Medianwert hingegen steht genau in der Mitte aller Einkommen – und die untere Hälfte hat vom konjunkturellen Aufschwung enorm profitiert.
Das zeigt sich daran, dass erstmals seit dem großen Krach von 2008/2009 die Armutsquote in den Vereinigten Staaten gefallen ist. Rund 3,5 Millionen Menschen verließen die offiziell definierte Armut, die je nach Familiengröße unter einem jährlichen Einkommen von 11.367 bis 52.747 Dollar (10.122 bis 46.971 Euro) liegt. Die Armutsquote beträgt nun 13,5 Prozent, um 1,2 Prozentpunkte weniger als im Jahr davor. 43,1 Millionen Menschen sind nun arm. Und nicht nur das: Die Börsen erreichen Rekordwerte, und das ist eine Erleichterung für jeden, der seine Pensionsersparnisse in einem Wertpapierfonds angelegt hat.
Pessimistische Weiße
Doch ein genauerer Blick auf jene Gruppen, die besonders stark von diesem Aufschwung profitieren, hilft auch beim Verständnis dafür, warum die meisten Amerikaner keine gute Meinung von der Entwicklung ihres Landes haben. Denn die einzige regional definierte Gesellschaftsgruppe, deren reale Einkommen im vorigen Jahr fielen, lebt in ländlichen Gegenden, die von den florierenden metropolitanen Zentren kulturell und infrastrukturell abgeschnitten sind.
Das ist Trump-Land, hier hat der republikanische Kandidat den stärksten Zuspruch; in Kentucky, West Virginia, den ruralen Gegenden Virginias und Ohios. Hier führen industrieller Niedergang und der Zerfall gesellschaftlicher Bande zu jenem Befund einer Pew-Umfrage, derzufolge keine ethnische Gruppe so pessimistisch in die Zukunft blickt wie Weiße.
Der Groll der Trump-Anhänger erklärt aber nicht, wieso zwei Drittel aller Amerikaner das System für manipuliert und die Zukunft für düster halten. Das Gefühl, nur unter hohem finanziellen Aufwand mithalten zu können, beunruhigt auch die kosmopolitische Mittelschicht in den Städten, wo ein Monat Kinderbetreuung von 2000 Dollar aufwärts kostet – von sechsstelligen Ausgaben für eine Collegeausbildung ganz zu schweigen, ohne die man heutzutage in den USA selbst bei guter Konjunktur oft ins Prekariat abtaucht.
Und über all dem steht eine nüchterne statistische Tatsache: Der US-Wirtschaft geht es derzeit gut, die Armut sinkt – doch noch immer ist die Armutsquote einen Prozentpunkt höher als im Jahr 2007 vor der großen Rezession.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2016)