Ungarn: Flüchtlings-Referendum ungültig

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Die Wahlbeteiligung blieb mit 40 Prozent gering, eine Enttäuschung für Ministerpräsident Orbán. Seine Partei spricht dennoch von einem "überwältigenden Sieg".

An dem gescheiterten Referendum in Ungarn über die europäische Flüchtlingspolitik haben sich nach amtlichen Angaben nur 39,9 Prozent der Wahlberechtigten beteiligt. Eine Beteiligung von mindestens 50 Prozent wäre jedoch nötig gewesen, damit der Volksentscheid vom Sonntag gültig gewesen wäre.

8,3 Millionen Wahlberechtigte sollten die Frage beantworten, ob sie eine "verpflichtende Ansiedlung von nicht-ungarischen Bürgern" auf Basis von EU-Beschlüssen wollen. Die rechtskonservative Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban weigert sich, einen EU-Beschluss über die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU umzusetzen. Bisher hat Ungarn keinen einzigen Flüchtling nach dem Verteilungsmechanismus aufgenommen.

Viktor Orbán hatte gerufen, aber nur wenige folgten seinem Ruf: Das ungarische Referendum über die umstrittenen EU-Quoten für die Verteilung von Flüchtlingen ist ungültig. An der Abstimmung nahmen laut dem in der Nacht verkündeten Endergebnis nur 39,9 Prozent der Wahlberechtigten teil  statt der erforderlichen 50 Prozen, damit das Referendum gültig gewesenw wäre. Wie die Behörden nach Auszählung fast aller Stimmen am Sonntagabend mitteilten, stimmten allerdings satte 98,3 Prozent gegen die EU-Flüchtlingsquote. Die Regierungspartei sprach trotz der Schlappe durch die zu geringe Beteiligung von einem "überwältigenden Sieg".

Orbán will aber jedenfalls dem Referendum aber Konsequenzen folgen lassen. Geplant ist offenbar eine Verfassungsänderung, um festzuschreiben, dass nur das nationale Parlament (und nicht die EU) entscheiden darf, ob und welche „nichtungarischen“ Staatsbürger sich in Ungarn ansiedeln: Das Prinzip, dass nur das Parlament bestimme, „mit wem die Ungarn zusammenleben wollen und mit wem nicht“, werde auf jeden Fall Eingang ins Rechtssystem finden, sagte er am Sonntag.

Das bedeutet, dass die Regierungspartei auf einen Grundsatzkonflikt mit der EU zusteuert. Denn nach geltendem EU-Recht ist die Asylpolitik, um die es beim Referendum ging, eine Kompetenz der EU-Instanzen. Zwar ist der konkrete Anlass des Referendums – „Pflichtquoten“ für die Umverteilung von Flüchtlingen in der EU – politisch kaum noch relevant. Ein bestehender Beschluss der EU-Innenminister vom 22.September 2015, wonach 160.000 Flüchtlinge nach einem „fairen“ Schlüssel auf alle EU-Mitglieder verteilt werden sollen, ist bisher kaum umgesetzt worden, und eine Erweiterung des Prinzips auf künftig alle neu ankommenden Flüchtlinge wird derzeit nicht mehr diskutiert.

Kräftemessen mit Blick auf die Wahl

Vom Wortlaut des Referendums her – „nichtungarische Staatsbürger“ – kann es sogar zu einem Konflikt um die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU kommen: wenn nämlich der Begriff auch auf EU-Bürger angewandt wird, die keine Ungarn sind. Jeder EU-Bürger darf nach geltendem Recht in jedem EU-Land arbeiten und leben. Derzeit gilt es freilich als unwahrscheinlich, dass dies in der Absicht der Regierung stünde.

Orbán würde mit einem solchen Schachzug einen langfristigen Konflikt mit der EU aufbauen, wohl bereits mit Blick auf die Wahlen 2018. In mehreren Schlüsselthemen der Innenpolitik ist die Regierung zuletzt in die Defensive geraten. Zustimmung erfährt die Regierungspartei Fidesz vor allem in zwei Bereichen: in der Flüchtlingspolitik und in der EU-Politik, sofern diese darin besteht, mit harten Bandagen möglichst viel politischen Freiraum für nationale, „souveräne“ Entscheidungen Ungarns zu erringen. Ein nachhaltiges Kräftemessen mit „denen in Brüssel“ kann Orbáns Chancen auf einen Erfolg 2018 also vergrößern. Sonst muss der Fidesz zumindest um die absolute Mehrheit bangen.

Verlustängste in der Fidesz-Partei

Der Schuss kann allerdings auch nach hinten losgehen. Die relativ schwache Wahlbeteiligung sogar in Kommunen, die als Fidesz-Hochburgen galten, ist kein gutes Zeichen für 2018. Die Partei steht zwar in allen Umfragen einsam an der Spitze aller politischen Kräfte, mit mehr als 40 Prozent „sicherer“ Wähler. Aber in den acht Monaten vor Beginn der Flüchtlingskrise im Sommer 2015 erlitt sie einen ernsthaften Schwächeanfall, glitt in den Umfragen ab und verlor wichtige Lokalwahlen. Einstige Erfolgsthemen wie die Senkung der Strom- und Gaspreise hatten ihre Wirkung verloren.

Die Partei hat seither zwar wieder ein Thema gefunden, das bei den Bürgern gut ankommt: großzügige Immobiliensubventionen für Familien, die mindestens drei Kinder haben oder wollen. Das betrifft aber nur ein relativ kleines Segment der Bevölkerung. Um 2018 sicher und hoch zu siegen, muss Orbán Feindbilder und drohende Gefahren dauerhaft aufbauen – die EU-Bürokraten (aber nicht Ungarns EU-Mitgliedschaft, die ist und bleibt Staatsräson) und die Flüchtlingskrise.

Das Referendum selbst lief geordnet ab, mit Ausnahme von Strompannen in zwei Wahlkreisen und einem Bombenalarm in Budapests 15. Bezirk. Dort wurde ein verdächtiges Gepäckstück untersucht und ein in der Nähe befindliches Wahllokal so lang geschlossen. Vor einer Woche war in Budapest eine Bombe explodiert und hatte zwei Polizisten schwer verletzt. Täter und Motiv bleiben bis jetzt unbekannt. Wahlberechtigt waren rund acht Millionen Bürger, darunter 270.000 im Ausland.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2016)

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