Der Überlebenskampf der marokkanischen Islamisten

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MOROCCO-POLITICS-ELECTIONS(c) APA/AFP/FADEL SENNA
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Nach Jahren des Aufschwungs versiegt der Reformwille im Land: Das Königshaus will wieder mehr Kontrolle – und einen Sieg der Säkularen bei den Parlamentswahlen heute, Freitag.

Rabat. Sie wollten nur noch schnell Sex haben und fuhren ans Meer, um ungestört zu sein. Aber statt des Liebesglücks gab es eine böse Überraschung: Die Polizei erwischte den 63-Jährigen und seine um ein Jahr jüngere Gefährtin nachts im Auto am Strand von Mohammedia, nördlich von Casablanca. Der verheiratete Moulay Omar Benhammad, Vater von sieben Kindern, und die Witwe Fatima Nedschar, Mutter von sechs Sprösslingen, wurden verhaftet. In Marokko stehen außereheliche Beziehungen unter Strafe.

Der nächtliche Vorfall wuchs sich in Marokko sofort zu einem politischen Skandal aus. Denn die beiden vom Strand waren bekannte religiöse Prediger puritanischer Sittsamkeit, die der islamistischen Regierungspartei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) angehörten. Für die Partei war das schon der dritte Tiefschlag in kurzer Zeit: Einige Mitglieder waren in einen Drei-Tonnen-Haschisch-Deal und einen obskuren Grundstücksverkauf verwickelt gewesen. Für die Partei und ihren Premierminister, Abdelilah Benkirane, ist das die erdenklich schlechteste PR. Die PJD lebt vom Image unbestechlicher Integrität. Das ist ein wichtiger Faktor, mit dem sie die 16 Millionen stimmberechtigten Marokkaner bei den Parlamentswahlen am heutigen Freitag für sich gewinnen will.

Säkulare in der Offensive

Für die PJD steht die Zukunft auf Messers Schneide. Denn die säkularen Kräfte haben zum Großangriff geblasen. Marokko müsse von der Herrschaft der Islamisten befreit werden. „Sonst endet das Land in einer Katastrophe“, behauptete Ilyas al-Omari von der Partei Authentizität und Modernität (PAM), dem Hauptgegner der PJD. Der Kampf zwischen Islamisten und Säkularen wird mit harten Bandagen geführt: „Tod oder überleben“, schrieben arabische Zeitungen darüber.

In Marokko läuft der Konflikt zwischen den Feindparteien in demokratischen Bahnen und gewaltlos ab. Verglichen mit anderen muslimischen Ländern kommt das einem Wunder gleich. Das Königreich an der Nordspitze Afrikas ist ein Positivbeispiel für einen Arabischen Frühling, der hier ganz ohne Revolution auskam. Und das Land scheint vorerst weiter friedlich und stabil zu bleiben – dank politischer und sozialer Reformen und des Wirtschaftsaufschwungs. Die Frage ist nur: Wird das andauern?

2011 war es in der Hauptstadt Rabat und anderen Orten zu Demonstrationen gekommen. Doch sie blieben relativ klein, die Sicherheitsbehörden hatten strenge Anweisungen, es nicht zu einer Eskalation kommen zu lassen.

Um den Forderungen nach politischen Reformen den Wind aus den Segeln zu nehmen, übernahm König Mohammed VI. diese Aufgabe selbst. Er beauftragte eine Kommission, die einen neuen Verfassungsentwurf vorlegte, der kurze Zeit später im Rahmen eines Referendums mit 98,50 Prozent der Stimmen angenommen wurde. Damit gingen entscheidende Machtbefugnisse vom Monarchen auf den Premierminister, das Kabinett und das Parlament über. Mit einigen wenigen Ausnahmen war Marokko zu einer konstitutionellen Demokratie geworden.

Mit der Zuspitzung des Konflikts in Syrien und dem fortwährenden Bürgerkrieg in Libyen verging den Menschen in Marokko ganz der Appetit auf eine radikale Umwälzung. „Was soll das mit einer Revolution“, sagt Abdelatif, ein Taxifahrer aus Tanger stellvertretend für die populäre Meinung. „Alles endet doch nur in einem Blutbad und Chaos. Und bei uns wird doch alles besser.“ Er verweist auf die neuen Verbindungsstraßen, die landesweit gebaut wurden, auf die industriellen Großprojekte, die Renovierung marokkanischer Innenstädte mit Parks und Kinderspielplätzen. „Das hat es doch früher alles nicht gegeben.“

Tatsächlich wurden neue Häfen, wie der in Tanger mit einer riesigen Freihandelszone, in einem rasenden Tempo fertiggestellt. Aus dem Ausland siedelte die Regierung Autoproduzenten und Flugelektronikbetriebe an. In der Sahara installierte sie eine der größten Solaranlagen weltweit, die 2020 40 Prozent des Energiebedarfs decken soll. Nächstes Jahr soll der französische Schnellzug TGV mit Hochgeschwindigkeit durch Marokko brausen.

Explosives Sozialgemisch

Rabat schuf Tausende von neuen Arbeitsplätzen, wenn auch überwiegend im Niedriglohnsegment. Auch die Mittelschicht wächst beständig, was von Experten als Zeichen der Prosperität gewertet wird. Staatliche Programme reduzierten die Analphabetenrate. Laut Angaben der Weltbank sank bis 2011 die extreme Armutsrate von zwei Prozent auf 0,28 Prozent und die relative Armut von 15,3 Prozent auf 6,2 Prozent. Trotzdem ist das lang nicht genug: Ein Fünftel aller jungen Menschen ist arbeitslos. Selbst für Akademiker ist es schwierig, einen Job zu finden. Hinzu kommt die grassierende Korruption, obwohl sie innerhalb des Polizeiapparats rigoros reduziert wurde. „Auf jedem Amt muss man bezahlen, wenn es schnell gehen soll“, klagt Mohammed, ein Fliesenleger aus der Hauptstadt.

Das alles sind Zutaten eines gefährlichen Gemischs, das in den nächsten Jahren leicht explodieren könnte: Noch haben die marokkanischen Sicherheitsbehörden den Terror im Griff. Doch unternimmt der Staat nichts gegen die niedrigen Löhne, die Korruption und die hohe Jugendarbeitslosigkeit, könnten die Rekrutierer radikaler Islamistengruppen in den verarmten Vorstädten Casablancas oder Tangers wieder leichtes Spiel haben.

„Die Fortschritte Marokkos klingen gut“, sagt Mohammed Chtatou, Universitätsprofessor aus Rabat, mit zynischem Unterton. „Es hat mit den Reformen sicherlich schön angefangen, doch mittlerweile stagnieren soziale und vor allem politische Entwicklung.“ Natürlich könne man das Land nicht von heute auf morgen zu einer perfekten, sozial gerechten Demokratie machen, gibt Chtatou gern zu. „Aber es ist enttäuschend, wenn der Zug plötzlich stehen bleibt und sich nicht mehr vorwärtsbewegt.“ Der Akademiker gibt dem Machtgeflecht, das rund um den Machsen, Königspalast, besteht, die Schuld an der Lähmung im Land. „Das ist ein Zirkel, der versucht, den politischen Prozess ständig zu kontrollieren.“

König will Wahlen beeinflussen

Der Machsen werde versuchen, den Ausgang der anstehenden Parlamentswahlen zu beeinflussen, ist sich Chtatou sicher. Denn das Königshaus will einen erneuten Sieg der islamistischen PJD unter allen Umständen verhindern. Eine direkte Manipulation des Ergebnisses schließt der Professor aus. Vielmehr werde man auf die üblichen Wahlanreize und Prämien setzen. Das kann von einem Mittagessen über Geschenke bis hin zu Geldzahlungen reichen, wie Stimmberechtigte seit vielen Jahren regelmäßig vor Wahlen erzählen. Da ist Marokko keine Ausnahme. In nahezu allen arabischen Ländern funktioniert das ähnlich – im Rest Afrikas ist das Problem sogar noch ausufernder. „Der Machsen wird die anderen Parteien diesmal besonders umwerben, Ministerposten versprechen und andere Vergünstigungen“, meint Chtatou. „Ganz klar, fügt er an, „die Zeit der Islamisten ist abgelaufen.“

Wer weiß, ob das die beiden Prediger Benhammad und Nedschar trösten kann, die am Strand im Auto Sex hatten? Wenn die PJD tatsächlich am Freitag die Wahlen verlieren sollte, dann war es nicht allein ihr skandalöses Stelldichein, das dies zu verantworten hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2016)

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