Serbien: Dauergast im Wartesaal Europas

(c) Reuters (Danilo Krstanovic)
  • Drucken

Dem größten Staat aus der Konkursmasse Jugoslawiens wird viel Potenzial attestiert. Es zu nutzen fällt dem Land jedoch schwer. Auch deshalb, weil sich die EU zu keinem entschlossenen Signal durchringt.

Hell schallt das Flötenspiel der Straßenmusikanten durch die Straßenschlucht der Knez Mihajlova. Gemächlich schlendern Liebespaare durch Belgrads beliebte Fußgängerzone. Bunte Eisberge türmen sich in den Vitrinen der Straßencafés, munter schwatzend genießen die Müßiggänger in den Schanigärten den Spätsommer. Es sind die Filialen derselben Konsumtempel wie in Wien oder Berlin, die in Serbiens Hauptstadt hinter spiegelblanken Scheiben um Kundschaft werben.

Doch mit dem Leben in den mitteleuropäischen Metropolen hat der Alltag vieler Serben wenig gemein. Im Zentrum Belgrads sei nicht zu sehen, „wie es in Serbien wirklich aussieht“, versichert der Familienvater Jovica Djordjevi?: „Dort geht gar nichts vorwärts.“

Mit Dutzenden Kollegen vom Autozulieferer Zastava Elektro aus dem zentralserbischen Ra?a biwakiert der hagere Jovica seit zwei Tagen auf Matratzen vor der Privatisierungsagentur auf dem Boulevard Terazije. Acht Monate habe die Belegschaft keinen Lohn erhalten, berichtet der 43-Jährige verbittert: „Wir wissen nicht mehr, wie wir unsere Familien ernähren sollen.“

Sogenannte Investoren mit besten Verbindungen zur Politik hätten die Firma „systematisch ausgeraubt“. Mit ihren Nöten fände die verzweifelte Belegschaft weder bei Regierung noch Opposition Gehör: „Wir existieren für die Politiker einfach nicht.“

Sehnsucht nach starkem Staat

Die Werte fast aller Politiker seien „stark gefallen“, berichtet Srdjan Bogosavljevi?, Chef des Meinungsforschungsinstituts „Strategic Marketing“. In Umfragen sei „keinerlei Optimismus“ zu erkennen. Nach dem Sturz des Autokraten Slobodan Milo?evi? im Jahr 2000 habe „eine große Hoffnung auf Wandel“ geherrscht. Doch Visionen gebe es in Serbien keine mehr – allenfalls Sehnsucht nach dem verschwundenen starken Staat.

Verrostete Ketten baumeln im südserbischen Leskovac an den Eingangstoren der stillgelegten Textilfabriken. Ob Vranje, Ni? oder Prokuplje – als „trauriger Süden“ gelten die armen Städte im strukturschwachen Teil des Landes. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise bekommen indes auch bisherige Wachstumsregionen wie die Vojvodina oder der Großraum Belgrad schmerzhaft zu spüren.

Trotz des „Aufholwachstums“ der vergangenen Jahre liege Serbiens Sozialprodukt noch stets unter dem Niveau von 1989, berichtet der Ökonom Boris Begovi?, Direktor des Zentrums für liberaldemokratische Studien. Gespeist wurde das Wachstum vor allem durch ausländische Kredite und Direktinvestitionen, der Kapitalzufluss habe aber unter der Krise stark gelitten. Das größte Problem Serbiens sei der „ineffiziente und aufgeblähte“ öffentliche Sektor, der sich als „schwerste Last“ für die Wirtschaft entpuppe: „Ohne wirksame Reformen kann Serbien nie so konkurrenzfähig werden, um sich international zu behaupten.“

Endlich wieder frei reisen

Schon früh am Morgen reihen sich die Wartenden vor dem deutschen Konsulat zu einer langen Schlange auf. Vermutlich das letzte Mal harrt Milica Nikoli? der Erteilung eines Visums zum Besuch ihrer Angehörigen in Deutschland. Als „ziemlich kompliziert“ bezeichnet sie die Visaprozedur. Sie sei über den von Brüssel ab 2010 in Aussicht gestellten Wegfall der Visapflicht sehr froh, bekennt die zierliche Serbin: „Für uns bedeutet das viel. Endlich werden wir reisen können – wie und wann wir wollen.“ Die Abschaffung der als „große Ungerechtigkeit“ erlebten Visapflicht sei von den Politikern zu häufig angekündigt worden, um sie noch als Errungenschaft darstellen zu können, relativiert Meinungsforscher Bogosavljevi?: „Sollte sie aber noch einmal aufgeschoben werden, hätte das sicher negative Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Europa.“

Im ersten Stock des unscheinbaren Hauses an der Nemanjinastraße residiert die KP Jugoslawiens. Im Stockwerk darüber hat im „Europäischen Integrationsbüro“ die EU-Zukunft Serbiens längst begonnen. Ausgestattet mit den Vollmachten einer Ministerin und in enger Abstimmung mit Brüssel müht sich Milica Delevi?, das eigene Kabinett zu EU-konformen Gesetzen anzutreiben. Natürlich verstärke es die Motivation, wenn die eigenen Anstrengungen wie beim Wegfall der Visapflicht von Brüssel auch honoriert würden, räumt Delevi? ein: „Aber die Reformen sind in erster Linie nicht für die EU, sondern für unsere Bürger, die erwarten den Wandel.“

„Wenn man zurückschaut und die Lage vor einem Jahrzehnt mit heute vergleicht, muss man von einem Erfolg sprechen“, verweist Delevi? auf unstrittig positive Entwicklungen seit den Kriegen der 90er-Jahre: Die Staaten des Westbalkan zählten insgesamt zwar weniger Einwohner als Rumänien, hätten aber als Transportdrehscheibe, Absatz- und Investitionsmarkt „enorm viel zu bieten“: „Die Integration der Region liegt auch im Interesse der EU.“

Niederlande blockieren

Mit dem Wegfall der Visapflicht dürften die Serben zwar endlich etwas näher an Europa rücken. Doch beim langen Weg in die EU hängt Daueranwärter Serbien weiter hoffnungslos in der Warteschleife fest. Wegen der ausbleibenden Auslieferung des flüchtigen Generals Ratko Mladi? an das Haager Kriegsverbrecher-Tribunal verweigern die Niederlande hartnäckig ihre Zustimmung zum bereits ausgehandelten Assoziierungsabkommen mit Serbien.

Mit einem Einlenken der Niederlande sei trotz der unbestrittenen Fahndungsanstrengungen Belgrads kaum zu rechnen, meint ein hoher EU-Diplomat: „Da bewegt sich nichts.“ Der Ankündigung von Außenminister Vuk Jeremi?, dass Belgrad vor Jahresende die EU-Mitgliedschaft beantragen werde, hat dessen schwedischer Kollege Carl Bildt kühl den Wind aus den Segeln genommen: Erst müsse das Assoziierungsabkommen in Kraft treten. „Mladi? in Den Haag, Serbien in der EU“ titelt ernüchtert die „Politika“.

Beim Dauergast im EU-Wartezimmer macht sich allmählich Ermattung breit. Das auf Eis liegende EU-Assoziierungsabkommen sei „totes Holz“, sagt Ökonom Begovi?, der für „Alternativen“ zum EU-Beitritt plädiert. Kurzfristig werde dieser durch die Niederlande, langfristig durch die Erweiterungsmüdigkeit der EU blockiert.

Mit der in serbischen Augen ungelösten Kosovo-Frage werde sich der EU-Beitritt noch als „sehr holpriger Weg“ erweisen, warnt Begovi? – und macht sich für eine Konzentration auf die wirtschaftliche Kooperation mit der EU stark: „Wichtig ist für Serbien ohnehin nur die Zollunion. Lasst uns das Abkommen und die politische Integration in die EU vergessen.“

Vertrauen auf eigene Fähigkeiten

Für Meinungsforscher Bogosavljevi? steht mehr als eine EU-Mitgliedschaft selbst der Weg dorthin im Vordergrund: „Wir brauchen jemanden, der uns einen Zeitplan gibt und kontrolliert. Nicht das Ende der Verhandlungen sei entscheidend, sondern der Beginn.“

Sachte plätschern die Donauwellen an den Kai. Fröhlicher Gesang und der muntere Hörnerklang der Hochzeitskapellen erschallen auf den Restaurantterrassen von Zemun. Weiter südlich dröhnen eingängige Technorhythmen bis zum Morgengrauen von den an der Save vertäuten Discoflößen. Rezession hin, Finanzkrise her: Ihre unbändige Lebenslust lässt sich die „weiße Stadt“ auch in der Krise nicht nehmen.

Merklich optimistischer als der Rest der Bevölkerung blicken laut einer Studie denn auch die Belgrader Jugendlichen in die Zukunft – auch wenn sich ihre Haltung eher aus dem Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten als auf den Staat gründet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.09.2009)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.