Die Schlacht um Iraks Zukunft hat begonnen

IRAQ-BAGHDAD
IRAQ-BAGHDAD(c) EPA (MOHAMMED JALIL)
  • Drucken

Die Anti-IS-Koalition macht sich bereits Gedanken über die Zukunft der Region im Norden des Irak. Das ethnische Pulverfass kann jederzeit explodieren.

Es ist eines dieser schmucklosen Neubaugebiete am Stadtrand von Erbil, in denen alle Straßen und Häuser gleich aussehen. Das abseits liegende Viertel wirkt in seiner Einförmigkeit wenig einladend. Aber im Vergleich mit den überfüllten Flüchtlingslagern in der Hauptstadt der autonomen Kurdenregion (KRG) ist es natürlich purer Luxus. Als Scheich kann sich Muhedin Khalil Salim eine dieser kleinen Villen leicht leisten und muss seine Familie nicht in eine Kleinstunterkunft zwängen. Er ist ein führendes Oberhaupt des Shabak-Stammes mit mehr als einer halben Million Angehörigen in der Region um Mossul. Das ist eine der vielen ethnisch-religiösen Minderheiten, die für den multikulturellen Irak so bezeichnend sind.

Die Shabaks wurden ebenso zu Opfern des Islamischen Staats (IS) wie Jesiden und Christen. „Wir mussten vor den Terroristen im Juli 2014 Hals über Kopf flüchten“, erzählt der Scheich, der standesgemäß in einer weißen Kandora, mit Tuch und schwarzem Kordring auf dem Kopf, empfängt. „Mit dem Angriff auf Mossul hoffen wir natürlich, dass wir bald in unsere 57 Dörfer in der Niniveh-Ebene zurückkehren können“, sagt der Scheich, der in seinem Wohnzimmer auf dem Boden hockt.

Für die Sunniten geht es ums Überleben

Die lang erwartete Offensive auf Iraks zweitgrößte Stadt kommt schneller voran als geplant, stellte Haidar al-Abadi, der irakische Premier, gestern auf einer Irak-Konferenz in Paris fest. Irakische Armee und die Peshmergatruppen der KRG befreiten in wenigen Tagen rund 20 Dörfer vom IS. Noch haben sie jedoch den Stadtrand Mossuls nicht erreicht. Rund 2000 Shabaks beteiligen sich an der Offensive. Entweder kämpfen sie in der Shabak-Brigade der Peshmerga oder in ihrer eigenen Miliz, die mit anderen sunnitischen Stämmen kooperiert.

„Für uns Shabaks, aber auch für alle anderen sunnitischen Stämme, geht es bei der Mossul-Offensive ums Überleben“, versichert der Scheich mehrmals. „Wir müssen uns vom IS befreien und eine neue Zukunft einleiten.“ Am Erfolg der Militäroperation hat der 51-Jährige keinen Zweifel. Er fürchtet auch nicht die Beteiligung von schiitischen Milizen, die bei anderen sunnitischen Stammesfürsten ein sorgenvolles Stirnrunzeln auslösen. Die schiitischen Einheiten, allen voran die Hashed al-Shaabi aus Bagdad, sind bekannt für Folter und Mord an Sunniten. „In unserem Stamm gibt es sowohl Sunniten als auch Schiiten. Für uns gibt es keinen Unterschied und auch keinen Grund, Angst zu haben.“

Für Scheich Salim beginnen die wahren Probleme erst nach der Rückeroberung der Niniveh-Ebene und Mossuls. Da wäre zuerst die Aussöhnung mit den sunnitischen Stämmen, die sich dem IS angeschlossen haben. „Wer vergewaltigt und getötet hat, verliert jeden Schutz des Stammes und ist vogelfrei“, meint der Scheich und lässt offen, ob das gleichbedeutend mit der Todesstrafe ist. Viele würden im Kampf sterben, da es nach einem Treueeid an den IS kein Zurück mehr gebe. Das sei Stammestradition. Sie hätten Schande über sich gebracht, niemand würde sie mehr aufnehmen. Über solche, die etwa nur gestohlen haben, müsse ein Schiedsgericht entscheiden.

Die politische Neugestaltung sei ungleich komplizierter. „Wir müssen eine autonome Region werden, mit eigener Regierung, eigenem Budget und eigener Verwaltung“, sagt Scheich Salim entschlossen. „Natürlich im Rahmen des irakischen Staats.“ Sollte Bagdad dieses Autonomieprojekt nicht gutheißen, würde der Scheich für die Integration in die kurdische KRG plädieren. „Irgendjemand muss uns Schutz gewähren, denn wir Shabaks vertrauen keinem mehr.“ Am liebsten wäre dem Stammesoberhaupt, wenn die USA und die internationale Koalition ihnen Protektion zusichern würden.

„Föderalismus wäre ideal“

Mit der Idee autonomer Provinzen ist der Shabak-Scheich nicht allein. „Natürlich wäre der Föderalismus ideal für den Irak“, sagt Safaa Khamro, vor dessen Haus in Ainkawa, dem Christenviertel von Erbil, zwei Bewaffnete Wache schieben. Khamro ist der Anführer der christlichen Miliz NPF, die aufseiten der Peshmerga kämpfen. „Jesiden, Shabak und Christen in einer Provinz – das wäre sicherlich sehr gut“, glaubt der Kommandant, ist aber gleichzeitig skeptisch. Nicht so sehr wegen der politischen Durchsetzung, vielmehr sieht er als größtes Hindernis den Hass zwischen Ethnien und Religion. „Der ist so weit verbreitet und sitzt so tief, dass die meisten noch nicht fähig sind, an die Zukunft des Landes zu denken.“

Unterstützung bekommen Shabaks und Christen selbst von den Sunniten, der größten Minderheit im Irak. „Autonome Provinzen sind die einzige Möglichkeit, den Irak als Staat zu retten“, glaubt Azil al-Nudscheifi, der ehemalige Gouverneur von Mossul. „Nur über Föderalismus gibt es eine Zukunft.“ Der Politiker hat seine Idee bereits in Bagdad in Regierungskreisen vorgetragen. „Die einen sind dafür, andere wiederum nicht.“

Zunächst müsse man jedoch die Schlacht um Mossul abwarten. Von deren Ausgang hängt ab, ob man überhaupt noch über die Zukunft des Landes sprechen könne. „Sollte Mossul völlig zerstört und die Bevölkerung in die Flucht geschlagen werden, gibt es keine Sicherheit mehr – weder in Bagdad noch in Erbil.“ Die Sunniten hätten dann ihre letzte Stadt verloren, ihre Identität und Kultur. „Das wäre die Stunde der Wiedergeburt des IS oder einer nicht minder radikalen Gruppe.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.10.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Außenpolitik

Massive Luftangriffe auf Mossul

Auch die Türkei ist in die Kämpfe um die Rückeroberung der nordirakischen Stadt Mossul involviert.
Irakische Truppen nähern sich Mossul vom Süden aus.
Außenpolitik

Irak: IS greift Jesiden-Gebiet an

Von der Mossul-Offensive in die Enge getrieben, gab es in der Region Sinja Selbstmordattentate auf kuridische Milizen. Die Türkei sieht sich als aktiver Partner gegen den IS.
Ein Soldat bei der Befreiung des christlichen Dorfes Bartella nahe Mossul im Irak.
Außenpolitik

Wenn nach dem IS die Kirchenglocken läuten

Die Armee und kurdische Kämpfer vertreiben die Terrormiliz Islamischer Staat aus immer mehr Dörfern rund um Mossul. Auch das mehrheitlich christliche Dorf Bartella ist befreit. Die Exilgemeinde freut sich auf die Rückkehr.
Falah Mustafa Bakir ist seit 2006 Außenminister der Regionalregierung Kurdistan-Irak. Er wurde in Erbil geboren und studierte im Irak, im englischen Bath sowie an der Universität Harvard.
Außenpolitik

"Wir bekommen nicht genug Respekt"

Der Außenminister der Kurdenregion über die Anstrengungen im Kampf gegen IS und die Zukunft Mossuls.
IRAQ-CONFLICT
Außenpolitik

Die Mossul-Mission der Schiitenmiliz

Die schiitischen Kämpfer im Nordirak sind überzeugt, dass Mossul ohne ihre Einheit nicht erobert werden kann. Die sunnitische Bevölkerung fürchtet den Einsatz, die Befehlshaber winken ab. Zu Besuch im Camp der Hashd al-Shaabi.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.