Analyse: Eine kleine Ehrenrettung des Nationalstaats

Ohne nationales Zusammengehörigkeitsgefühl können Staaten wie Staub zerfallen.
Ohne nationales Zusammengehörigkeitsgefühl können Staaten wie Staub zerfallen.(c) Reuters
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Der Vergleich mit Afrika und Nahost macht sicher: Nationalstaaten sind Stabilitätsanker.

Der Nationalstaat hat nicht das beste Image. Idealistische Weltbürger wollen ihn lieber heute als morgen überwinden und in die Geschichtsbücher verbannen. Den Ideologen unter ihnen ist jegliche nationale Regung von Vornherein verdächtig. Patriotische Posen erscheinen ihnen nicht nur dumpf und primitiv, sondern auch gefährlich, als Vorhölle zur kollektiven Massentrance gewissermaßen. Mehr als 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs schwingt im Nationalen immer noch die Angst vor blindwütig chauvinistischer Aggression mit.

Diese Sensibilität ist übertrieben, aber historisch gerechtfertigt. Tatsächlich stellt ja der europäische Einigungsprozess den folgerichtigen und erfolgreichen Versuch dar, den üblen Nationalismus, der den Kontinent im 20. Jahrhundert zweimal in den Abgrund gestürzt hat, einzuhegen und zu bändigen. Und zweifellos sind globale Herausforderungen vom Klimawandel abwärts eher über- und international zu meistern als durch Alleingänge, die an der eigenen Staatsgrenze enden.

Es wäre dennoch ein schwerer Fehler, das Konzept der Nation voreilig auszumustern und einer rückwärtsgewandten extremen Rechten zu überlassen. Denn auch im Jahr 2016 bleibt der Nationalstaat, wie der britische Ökonom Paul Collier konstatiert, die effizienteste Organisationsform, um Gemeinwesen zu gestalten. Das liegt an der emotionalen und sozialen Bindekraft des Nationalen, das nicht zwangsläufig negative Energie freisetzen muss.

Der Nationalstaat schafft ein Gemeinschaftsgefühl, das in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Bürger werden nur dann mehr oder minder freiwillig Steuern entrichten, wenn sie einer Gemeinschaft zugutekommen, der sie sich selbst zugehörig fühlen. Sonst wird es schwierig, Geld und Ressourcen umzuverteilen. Das wurde in der Griechenland-Krise exemplarisch deutlich, als die Idee einer europäischen Transferunion auf heftigen Widerstand bei Nettozahlern wie Deutschland stieß. Und in der Migrationskrise wiederum zeigte sich, welche essenzielle Bedeutung es haben kann, dass Nationalstaaten (wenn sie schon unfähig zu gemeinsamem Handeln sind) einer ihrer Kernaufgaben nachkommen und ihre Grenzen schützen.

Zerfallende Staaten ohne Identität

Dennoch werden die europäischen Nationalstaaten wohl weiterhin von zwei Seiten unter Druck bleiben. Von unten drängen regionale Bewegungen auf Ablösung, in Spanien die Basken und Katalanen, in Großbritannien die Schotten. Und oben wandern Machtbefugnisse sukzessive an die EU. Das ist kein Grund zur Unruhe, solange die Balance nach dem Subsidiaritätsprinzip gewahrt bleibt und jede Ebene für das zuständig ist, was sie erledigen kann. Problematisch wird es jedoch, wenn Macht ins Nirwana transferiert wird, ein Vakuum entsteht und niemand entscheidet.

Wehe dem aber, der in Gegenden der Welt – in Teilen des Nahen Ostens oder in Afrika – lebt, in denen Imperialmächte willkürlich mit Linealen Grenzen gezogen haben und wo sich bis heute keine nationale Identität herausgebildet hat. Dort bestimmen Clans und ethnisch-religiöse Gruppen das Wir-Gefühl. Ein übergeordnetes Gemeinschaftsgefühl existiert kaum oder gar nicht, ebenso wenig wie vertrauenswürdige Institutionen. Solchen Staaten ohne nationalen Identitätskern vermag ein Diktator oft jahrzehntelang gewaltsam zusammenhalten. Sie zerfallen jedoch im Nu wie Staub, wenn Konflikte eskalieren. Armut, Krieg und Chaos sind die Folgen – zu besichtigen zwischen Somalia, Libyen, Syrien und dem Südsudan, zu befürchten im 100-Millionen-Staat Nigeria. Europäische Nationalstaaten lernt man vielleicht am ehesten aus der Ferne schätzen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2016)

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