Ägypten steht vor einer Explosion

Das Leben in Ägypten ist nur noch für die Reichen erschwinglich. Die Preise für Lebensmittel sind zuletzt stark gestiegen.
Das Leben in Ägypten ist nur noch für die Reichen erschwinglich. Die Preise für Lebensmittel sind zuletzt stark gestiegen. (c) REUTERS
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Die Währung stürzt ab, die Lebensmittelpreise explodieren: Die Strategie von Staatschef al-Sisi scheitert. Nun will er Kapital aus der Flüchtlingskrise schlagen.

Kairo. Ägypten steht unter Schock. Existenzangst lähmt die Menschen, seit die Währung vor zwei Wochen mit einem Schlag um 50 Prozent an Wert verloren hat. Lebensmittelpreise explodieren, immer mehr Waren verschwinden aus den Regalen, bei Medikamenten herrscht bereits Notstand. Tag für Tag muss die Regierung neue Etatlöcher stopfen.

Zweieinhalb Jahre nach seiner 97-Prozent-Wahl scheinen Ex-Feldmarschall Abdel Fattah al-Sisi jetzt die Fäden aus der Hand zu gleiten. Seine Wirtschaftspolitik der Großprojekte ist gescheitert. Milliarden für die Erweiterung des Suezkanals wurden in den Sand gesetzt. Die mit viel Getöse ausgerufene neue Hauptstadt existiert nur als Fata Morgana. Selbst der kürzlich bewilligte Großkredit des Internationalen Währungsfonds scheint nur noch ein Tropfen auf dem heißen Stein zu sein. Einzig Korruption und Bürokratie wuchern ungehemmt, sodass sich jetzt selbst die reichen Gönner aus den Golfstaaten frustriert abwenden.

Die Zivilgesellschaft ist verstummt

Der Riese am Nil wankt. Ägypten droht der soziale und ökonomische Offenbarungseid. Die Hälfte der Menschen ist arm oder bitterarm. Bei besser gestellten Familien wird das Geld ebenfalls knapp, lediglich die dünne Schicht der Superreichen lebt noch unangefochten. Die Bevölkerung ist fünf Jahre nach dem Arabischen Frühling zum hilflosen Zuschauer des eigenen Niedergangs geworden. Alle nennenswerten politischen Kräfte sind mundtot gemacht worden. Mahnungen aus dem Westen, das gesamte politische Spektrum am Schicksal der Nation zu beteiligen, werden als blauäugig und naiv abgetan. Die besten Köpfe der demokratischen Jugendbewegung sitzen im Gefängnis.

Der Großteil der Zivilgesellschaft ist verstummt, den Rest besorgt wahrscheinlich in den nächsten Monaten das geplante neue NGO-Gesetz. Ausländischen Trägern wird mit flächendeckendem Misstrauen begegnet. Entsprechend dicht bevölkert ist der mentale Kosmos der ägyptischen Machtelite mit Dunkelmännern, internationalen Agenten, apokalyptischen Intrigen und zionistischen Machenschaften. Mit solchen Hirngespinsten im Kopf gibt es natürlich keinen Grund, sich mit dem eigenen Versagen zu konfrontieren und die verbarrikadierte politische Landschaft endlich zu öffnen.

Europa aber duckt sich weg und schweigt. Frankreich spekuliert auf seine lukrativen Waffengeschäfte. Italien schielt auf die Gasfelder vor der ägyptischen Küste. Deutschland lässt sich durch den Mega-Auftrag für den Siemenskonzern blenden. Vor allem aber starren Berlin, Paris und Rom auf das Flüchtlingsgeschehen im Mittelmeer, in dem sich die 90-Millionen-Einwohner-Nation am Nil neben Libyen und der Türkei zu einem weiteren Hotspot entwickelt. Kein Wunder, dass auch der ägyptische Ex-Feldmarschall die Migration als lukratives Gewinnspiel entdeckt. Er ist entschlossen, aus Europas Flüchtlingsangst Kapital zu schlagen. Zudem ist jeder junge Landsmann, der es nach Lampedusa schafft, ein frustrierter, arbeitsloser Untertan weniger.

Europa stellt keine Bedingungen

Obwohl Ägypten inzwischen jeden Cent braucht, ordnet Brüssel im Umgang mit dem Sisi-Regime alles den Absatzchancen und dem Flüchtlingsthema unter. Kein einziger europäischer Staatschef ist bereit, die jetzigen oder künftigen Finanzhilfen an eine Liberalisierung Ägyptens zu knüpfen. Und so kann sich der starke Mann am Nil sicher sein: Harte Forderungen nach Menschenrechten und Meinungsfreiheit hat er auch weiterhin nicht zu befürchten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2016)

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