Knapp drei Jahre nach dem Richtungsentscheid der Ukraine ist der Reformfortschritt schleppend. Mit Präsident Trump in den USA und einem Europa in der Krise wird es für Kiew künftig schwieriger, Verbündete zu finden.
Kiew/Wien. Bei einer Tagung über den Reformfortschritt der Ukraine mit dem Titel „Ist das Glas halb voll?“ in der Diplomatischen Akademie in Wien richtete die ukrainische Vizepremierministerin für Europäische Integration, Iwanna Klympusch-Tsintsadze, zu Wochenbeginn einen emotionalen Appell an das Publikum: „Die Ukraine hat den europäischen Weg eingeschlagen und wird nun dafür bestraft.“
Die Europäische Union habe zwei Optionen, erklärte die Politikerin: „Entweder lässt man Russland weiterhin freie Hand, oder Europa steht der Ukraine bei.“ Klympusch-Tsintsadze ist, wie wohl die Mehrheit der Ukrainer, eine Befürworterin der zweiten Option. Doch drei Jahre nach dem Einfrieren des EU-Assoziierungsabkommens durch den damaligen Präsidenten, Viktor Janukowitsch, und dem Start der Proteste, die zu seinem Sturz führten, ist die „Ukraine-Müdigkeit“ in Europa eingekehrt. Denn seit dem Beginn der als Ukraine-Krise leidlich treffend benannten, weit größeren Verwerfung zwischen dem Westen und Russland ist in Europa vieles, salopp gesprochen, komplizierter geworden. Ein Deal nach Trump'scher Denkart, der die Unterstützung der Ukraine stutzt im Tausch für eine Aussöhnung mit Russland, klingt für Pragmatiker attraktiv. Es ist dieses Arrangement-Denken, gegen das Klympusch-Tsintsadze auftritt.
Warum aber die „Ukraine Fatigue“? Vielleicht auch, weil die Ukraine (noch) keine klare Erfolgsgeschichte ist. Einerseits kommt das Kernstück der ukrainischen EU-Annäherung, das Assoziierungsabkommen, wegen des niederländischen Nein bei der Volksabstimmung nicht in Gang. Nach einem diplomatischen Ausweg, der das Inkrafttreten des Vertrags ermöglichen soll, wird gesucht. Ein Lichtblick: Bis Jahresende soll die EU-Visumspflicht für Ukrainer fallen, heute wird in Brüssel wieder darüber beraten. Uneinigkeit besteht innerhalb der EU auch bezüglich der Fortführung der Sanktionen, die gegen Moskau nach der Annexion der ukrainischen Krim verhängt worden waren. Schließlich hat die Ernüchterung auch zu tun mit mangelnden Fortschritten im Minsker Abkommen. Der deutsche OSZE-Vorsitz sucht es nächste Woche mit einem hochrangigen Treffen wieder einmal zu beleben.
Knackpunkt Justizwesen
Viertens: In der Ukraine ist der Reformprozess durchwachsen, wie übereinstimmend Experten, auch jene auf der von der ukrainischen Botschaft, dem Institut für den Donauraum und Mitteleuropa und der Diplomatischen Akademie organisierten Konferenz erklärten. Zwar kann man in Sachen Polizeireform, Einrichtung von Antikorruptions-Institutionen, bei der Neuregulierung des Gasmarktes, verbindlichen Besitzdeklarationen für Politiker und hohe Beamte und transparentem Beschaffungswesen Fortschritte vermelden, doch viele Initiativen bleiben begrenzt wirksam ohne eine Generalsanierung der Justiz. Tatsächlich wird der Kampf zwischen Beharrungskräften und Reformern, zwischen alten und neuen Institutionen und in langwierigen Rechtsstreitigkeiten ausgefochten.
Das Autorenduo Mychailo Minakow und Tymofij Mylowanow warnt vor einem Machtzentrum der „Beharrungskräfte“ rund um den Präsidenten. Mit Verweis auf das Ende von Janukowitsch liefern die beiden eine beunruhigende Vision: „Starke Präsidenten können sich zu autoritären Anführern entwickeln. Ihre Taten führen zu einem neuen Maidan und der Neuordnung der politischen Kräfte.“ (som)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2016)