Es geht um Werte, nicht um Wirtschaft

Marx
Marx(c) Dorothea Schmid / laif / picture (Dorothea Schmid)
  • Drucken

Das Sein bestimmt das Bewusstsein, behauptete Marx. Damit lassen sich auch Trump und Brexit einfach deuten: Der rabiate Populismus sei nur eine Reaktion auf begründete Abstiegsängste und soziale Missstände. Aber stimmt das?

Warum sich Gedanken über Marx machen, gerade jetzt? Es gibt doch viel dringendere Themen. Aber da ist dieser sperrige Satz, der uns weiter umtreibt: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ Soll heißen: Schaut auf Arbeit, Wohlstand und Verteilung der Güter, dann versteht ihr den ganzen Rest. Werte, Geisteshaltung, Moral – alles scheinbar Höhere ist durch den Unterbau festgelegt. Mit diesem Dogma spukt Marx weiter durch unsere Köpfe. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann konstatiert: „In dem Maße, in dem wir das Funktionieren der Wirtschaft für die Voraussetzung halten, dass auch alles andere funktioniert“, wie Kultur, Politik und Recht, „in dem Maße sind wir alle Kryptomarxisten.“

Gerade jetzt. Kaum sind die ersten Wehklagen über den Wahlsieg von Donald Trump verklungen, ist die Erklärung schon parat: Die abgehobene Politik habe auf die wirtschaftlich Abgehängten, die Globalisierungsverlierer, vergessen. Nun verwandeln sie sich in Wutbürger, rächen sich bei Wahlen. So gerät die Welt aus den Fugen. Der Siegeszug des Rechtspopulismus, ein drohender Rückfall in autoritäre Gesellschaftsformen, so wie in Russland und der Türkei – alles nur wegen zu wenig sozialer Gerechtigkeit.

Mehr Wohlstand, größere Fallhöhe

Vielleicht ist das mit heißer Nadel gestrickte Erklärungsmuster deshalb so beliebt, weil es einen Ausweg anbietet: Man müsse nur auf die Betroffenen zugehen, ihre Nöte verstehen und für Abhilfe sorgen, dann werde alles gut. Gern gesellt sich die warnende Erinnerung an die Dreißigerjahre dazu. Aber der Vergleich erscheint absurd: Erst Hyperinflation, dann Massenarbeitslosigkeit trieben die Deutschen damals in echte Not und wahres Elend – und in die Hände faschistischer Verführer. Nichts von alldem heute: Wir leben in einer Epoche mit einem noch nie dagewesenen Ausmaß an Wohlstand und sozialer Absicherung. Wer dennoch Parallelen erzwingt, landet beim „Wohlstandsfaschismus“ – einem Begriff, den Joschka Fischer prägte.

Die übliche Entgegnung darauf: Es gehe nicht um das erreichte Niveau, sondern den Zuwachs an Wohlstand. Wer nicht beständig an Einkommen zulegt, beginne zu murren. In dieser rohen Form scheint auch das wenig plausibel. Warum sollte das Niveau keine Rolle spielen? Empirische Evidenz dazu stammt aus einer ärmeren Vergangenheit oder ärmeren Weltgegenden. Trendforscher konstatieren bei der satten westlichen Jugend eine Abkehr vom rein materiellen Immer-mehr. Aber es geht auch subtiler. Auf die USA gemünzt: Selbst Vollbeschäftigung und kräftig wachsende Wirtschaft nützen nichts, wenn der Zuwachs sich oben konzentriert und die mittleren Einkommen sinken. Dann gibt es, trotz akkumulierten Wohlstands, die relativen Verlierer, die ein Ventil für ihren Frust suchen, bis weit in die gut verdienende Mittelschicht hinauf. Es geht um die Fallhöhe: Je höher eine Gesellschaft gestiegen ist, desto größer in ihr die Angst, dass man abstürzen könnte. Nach unten zu schauen, ist jeder gezwungen, wenn der Pfad nicht mehr stetig bergauf führt, sondern nur noch den Hang quert. Zweifel bleiben: Warum macht Trump gerade bei den Alten Furore, deren Verlustrisiko nicht mehr groß ist? Warum wählen Abgehängte einen Milliardär, der ihnen das wenige an sozialem Netz, das es in den USA gibt, nehmen will? Auch nennen die Trump-Wähler selbst ganz andere Motive, nämlich die Ressentiments, die er verbreitet. Freilich: Niemand sieht sich selbst gern als Verlierer. Und dass die Einkommen in Amerika heute viel ungleicher verteilt sind als vor zwei Jahrzehnten, ist Fakt. Womit Marx weder widerlegt noch bewiesen wäre.

Aber es gibt ja noch Europa. Und hier spricht die politische Geografie klar gegen die neue Deutung des alten Dogmas. Wo in Italien ist der Populismus zuhause? Im wohlhabenden Norden. Wo in Deutschland driftet auch eine Volkspartei nach rechts? In Bayern, der reichsten Region. Spanien hat eine extrem hohe Arbeitslosigkeit, aber genau dieses Land scheint gefeit gegen die Suche nach fremden Sündenböcken. Warum?, fragte man den Klubobmann der linken Podemos-Partei diesen Sommer. Den Nordeuropäern gehe es eben zu gut, war seine Antwort. Wer wirklich in Nöten ist, verhalte sich solidarisch mit denen, die noch ärmer dran sind.

Wer den Wandel scheut, begehrt auf

Schließlich die Alpenrepubliken: In Österreich erstarkte die FPÖ unter Haider in einer Zeit kräftig wachsender Einkommen. Kein Land ist so reich wie die Schweiz, in keinem anderen ist eine Partei wie Blochers SVP schon so lange mit an der Macht. Dort steigen auch die mittleren Einkommen, dort rührt sich bei der Ungleichheit (wie auch in Österreich) fast nichts. Abstiegsängste? Gut möglich. Aber dann sind sie eben nicht ökonomisch fundiert, sondern leiten sich bereits aus den Werten ab. Diese sind primär.

Wer den Wandel scheut, begehrt auf, wenn es ihm zu viel wird. Er will nicht das Wohlstandsniveau von einst zurück, das viel niedriger war, aber die ideelle Sicherheit, das fest gefügte Weltbild. Die Mittel dazu: ein Rückzug aus Europa, das Aufziehen von Grenzen, die Rückabwicklung der Emanzipation von Frauen und Minderheiten. Dahinter stehen durchaus Werte. Aber es sind solche, die der andere Teil des Wahlvolkes als extreme Unwerte ansieht. Über diese Kluft helfen keine sozialromantischen Rezepte. Das Bewusstsein dominiert das Sein. Wie damit umgehen? Die Philosophie wurde durch Marx auf Abwege gelockt. Aber etwas anderes haben wir durch sie gelernt: Auch Werte lassen sich argumentieren. Also: miteinander reden, zivilisiert streiten. Auch wenn man dabei das Gefühl hat, in einen Abgrund zu blicken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.12.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.