Cem Özdemir: „Heimat ist kein rechter Kampfbegriff“

Ein Feindbild für deutsche und türkische Rechtsradikale: Grünen-Chef Cem Özdemir.
Ein Feindbild für deutsche und türkische Rechtsradikale: Grünen-Chef Cem Özdemir. Goetz Schleser / laif / picturedesk.com
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Um den Rechtspopulisten etwas entgegenzusetzen, sollten die Grünen ihre wertkonservativen Wurzeln wieder stärker zum Vorschein bringen, sagt ihr Parteichef in Deutschland, Cem Özdemir. Gerade auch in der Integrationspolitik.

Cem Özdemir: Alexander Van der Bellen hat sich gerade per Tweet für die Glückwünsche bedankt.

Das trifft sich gut. Ich wollte Sie gerade fragen, ob Van der Bellens Wahlerfolg ein Ansporn für die deutschen Grünen ist.

Selbstverständlich ist das Rückenwind für uns und für all diejenigen, die nicht glauben, dass ein Zurück zum Nationalstaat die Antwort auf die Probleme unserer Zeit ist. Dafür steht diese Wahl.

Was können die deutschen Grünen von Van der Bellen lernen?

Eine offene Haltung. Dass man nicht nur mit seinesgleichen redet, sondern sich der Gesellschaft öffnet. Unser Ministerpräsident in Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, legt in meinem Bundesland auch viel Wert auf diese Art der Ansprache – und es funktioniert.

Kretschmann wäre ja auch beinahe Bundespräsident geworden. Aber die CSU hat ein Veto gegen Angela Merkels Pläne eingelegt.

Nach Vejonis in Lettland und Van der Bellen in Österreich Kretschmann in Deutschland – das hätte etwas gehabt.

Ärgern Sie sich über Horst Seehofer, den Parteichef der CSU?

Immer wieder. Aber ich will ihn dann doch nicht auf die Stufe der FPÖ stellen. Die ist noch schärfer: in der Tonalität und inhaltlich. Aber die CSU-Spitze glaubt leider, dass sie mit ihrer Politik – rechts kopieren – Erfolg haben kann.

Aber Sie finden: Das nützt nur der AfD.

Wenn man etwas von Österreich lernen kann, dann dass es zwei Dinge braucht, um Rechts-außen zu besiegen: Erstens eine klare Haltung, die sich am Menschenbild des Grundgesetzes orientiert. Zweitens muss man sich um die Probleme jener Leute kümmern, die das Gefühl haben, abgehängt worden zu sein. Sonst wählen sie die falschen Leute.

Van der Bellen passt eigentlich nicht in die Serie des Jahres 2016: Nach dem Brexit und Donald Trump haben die meisten mit Norbert Hofer gerechnet. Aber es war knapp. Haben Sie eine Erklärung, warum sich der Populismus weltweit im Aufwind befindet?

Dafür gibt es keine einfache Erklärung. Es ist eine Mischung aus den klassischen sozialen Gründen. Bei manchen ist es auch eine Reaktion auf Zukunftsängste in einer globalisierten Welt.

Was meinen Sie mit den klassischen sozialen Gründen?

Es gibt nicht nur Gewinner der Globalisierung und Modernisierung – und diese Entwicklung wird sich durch die Digitalisierung noch beschleunigen. Gerade wir Grüne müssen da ehrlich sagen, wenn wir beispielsweise für eine Elektrifizierung der Automobilindustrie eintreten: Das heißt dann für ein Bundesland wie Baden-Württemberg, dass wahrscheinlich nicht jeder Job eins zu eins ersetzt werden kann.

Was wollen Sie Leuten anbieten, die durch die Digitalisierung ihre Jobs verlieren?

Wir müssen den Strukturwandel planen. Kein Arbeitsloser, kein Alleinerzieher und kein Rentner sollte das Gefühl haben, AfD wählen zu müssen, nur damit wir ihm endlich zuhören.

Bei vielen, die in Deutschland AfD und in Österreich FPÖ wählen, scheinen auch kulturelle Identitätsängste eine Rolle zu spielen.

Das ist die kulturelle Dimension. Wir dachten, dass sich die Geschichte quasi zwangsläufig in unsere Richtung bewegt: immer mehr Frauenrechte, immer mehr Schwulen- und Lesbenrechte, eine immer buntere Gesellschaft, in der man sich offen begegnet. Vielleicht haben wir darüber vergessen, dass wir auch auf jene zugehen müssen, die mit diesen Entwicklungen nicht einverstanden sind. Gerade in einer Einwanderungsgesellschaft. Eine Erkenntnis ist: Diese Werte müssen immer wieder neu verteidigt werden. Das haben wir in der Silvesternacht von Köln gesehen.

Wie sollte eine liberale Gesellschaft darauf reagieren?

Im Bereich Integration gehört zum Beispiel dazu, dass man über Erwartungen spricht, die wir Migranten gegenüber haben. Ich finde, als Grüner kann ich das mit durchgedrücktem Rücken verlangen. Gerade weil wir für Frauenrechte gekämpft haben, auch gegen katholische Bischöfe, sollten wir keine Scheu haben, einem Islamvertreter zu sagen: „Wenn du hier glücklich werden willst, dann gewöhne dich an die Gleichberechtigung von Mann und Frau.“

Integration ist eine Holschuld?

Wir können nicht erwarten, dass Menschen, die aus einem Land kommen, in dem die Polizei korrupt ist, Sexualität tabuisiert wird und Frauen ab einem gewissen Alter unter einem Schleier verschwinden, über Nacht zu guten Demokraten mutieren. Wir müssen sie bei der Hand nehmen und ihnen neben der Sprache auch die Orientierung in unsere Gesellschaft hinein vermitteln.

Genau damit hat sich das linksliberale Milieu inklusive Grüne immer schwergetan.

Wir haben uns traditionell mit Begriffen wie Heimat schwergetan. Weil wir dachten, das sei ein rechter Kampfbegriff. Ist er aber nicht. Die Grünen, die für Naturschutz und das Zusammenleben von Menschen, unabhängig von Trauschein und sexueller Orientierung kämpfen, haben auch eine wertkonservative Wurzel. Die müssen wir stärker zum Vorschein bringen, statt sie kampflos den Rechten zu überlassen.

Van der Bellen hat das vorgemacht.

Da ist viel zu lernen für uns, obwohl wir das auch in jenen Bundesländern versuchen, in denen wir mitregieren.

Müssen die Grünen bürgerlicher werden?

Bürgerlich ist ein Kampfbegriff der Christdemokraten gewesen, um zu sagen: Die anderen sind es nicht. Das ist eine Frechheit. Ich bin genauso bürgerlich wie andere es sind und komme aus einer Arbeiterfamilie. Wir Grünen dürfen uns nicht auf ein Segment der Gesellschaft beschränken. Das setzt eine Sprache voraus, die von allen verstanden wird und nicht nur eine ist, mit der Grüne mit Grünen kommunizieren.

Wie soll diese Sprache klingen?

Wir könnten sagen, dass wir genauso Angst vor Einbrechern und Terroristen haben. Deshalb ist man kein Rechter. Ich erlebe das ja selbst. An manchen Orten in Ostdeutschland bewege ich mich besser nicht allein, weil ich es dort mit Rechtsradikalen zu tun habe. Allerdings gibt es auch in Berlin-Kreuzberg, wo ich berufsbedingt wohne, No-go-Areas für mich. Und zwar nicht wegen der deutschen, sondern wegen der türkischen Rechtsradikalen. Wenn es da oben einen lieben Gott gibt, dann hat er den Irrsinn unter den Nationen und Religionen halbwegs fair verteilt. Wir sollten deutlich machen, dass wir den Wahnsinn überall bekämpfen.

Wie geht es Ihnen mit dem Parteitagsbeschluss der CDU, der die doppelten Staatsbürgerschaften wieder abschaffen will?

Ich besitze nur einen Pass, ich brauche keinen türkischen. Aber ich finde, dass die doppelte Staatsbürgerschaft ein Mittel zum Zweck ist, um aus Ausländern Inländer zu machen. Also werde ich im Wahlkampf sagen: Wer glaubt, dass die Türken ihre Antennen Richtung Erdoğan ausrichten sollten, wählt besser CDU. Wer dagegen Deutschtürken in unser Grundgesetz integrieren möchte, ist bei uns besser aufgehoben.

Wo fühlen Sie sich denn besser aufgehoben, bei der Union oder in einem Bündnis mit der SPD und der Linkspartei? In Ihrer Partei gibt es gerade einen Richtungsstreit, mit wem man im Herbst 2017 koalieren soll.

Ich vertrete das Lager: starke Grüne.

Das überrascht mich jetzt nicht.

Na ja, das ist keine Selbstverständlichkeit. Wir haben bei der vorigen Wahl deutlich schlechter abgeschnitten als unsere österreichischen Freunde. Und das war durchaus eigenverschuldet.

Inwiefern?

Wir haben zu viel über Frau Merkel und zu wenig über uns geredet. Und wir haben uns sklavisch an die SPD gekettet.

Aber wie wollen Sie mit der CDU auf einen Nenner kommen? Die einen wollen Vermögensteuern, die anderen schließen sie aus.

Dafür redet man und schaut, was geht. Aber wir werden die Koalitionsverhandlungen jetzt nicht über eine österreichische Tageszeitung führen.

Steckbrief

Cem Özdemir (50)
ist seit 2008 Parteichef der deutschen Grünen (seit 2013 mit Simone Peter).

Bei der Bundestagswahl im September treten die Grünen mit einer Doppelspitze an. Den weiblichen Part hat Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt.

Um den männlichen haben sich neben Özdemir auch der andere Fraktionschef, Anton Hofreiter, und der Umweltminister von Schleswig-Holstein, Robert Habeck, beworben.

Die Entscheidung fällt in einer Urwahl unter den Parteimitgliedern bis Mitte Jänner.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2016)

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