Die letzte Schlacht um die Perle Syriens

SYRIA-CONFLICT
SYRIA-CONFLICTAPA/AFP/GEORGE OURFALIAN
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Mit dem Angriff auf Aleppo im Jahr 2012 glaubten die Rebellen, den Bürgerkrieg in Syrien zu ihren Gunsten entscheiden zu können. Doch das Gegenteil trat ein. Heute steht das Regime von Bashar al-Assad vor seinem größten Triumph.

Die Uniform hing akkurat am Kleiderbügel an der Garderobe seines Büros. Oberst Younis machte es sich bequem. Er trug einen billigen, ausgebeulten Adidas-Trainingsanzug, der seinen dicken Bauch noch runder erscheinen ließ. Auf dem Schreibtisch lag ein wüster Haufen von Zollunterlagen. Der Leiter von Bab al-Hauwa, einem der größten syrischen Grenzübergänge in die Türkei, legte keinen großen Wert mehr auf Formalitäten. Warum sollte er auch? Damals, im Juni 2012, tobte im ganzen Land die Revolution.

Der Machtapparat des totalitären Baath-Regimes von Präsident Bashar al-Assad schien zu zerbröckeln. Und der Grenzübergang, den Younis beaufsichtigte, war von den Rebellen eingekreist. Ordnung und Pflichtbewusstsein überließ er anderen. Eine Militärpritsche war nun sein Bett geworden. Kaffee und Tee bereitete er mit einem Wasserkocher zu, auf dem Boden standen ein kleiner Herd und Konservendosen. Das Büro war zu seinem Zuhause geworden.

Liebend gern wäre Younis zu seiner Familie in das 60 Kilometer entfernte Aleppo gefahren, das damals noch in der Hand des Regimes war. Nur hätte das der knapp 50-Jährige wohl nicht überlebt. Er wäre an einem der Checkpoints der Freien Syrische Armee (FSA) aufgeflogen, wie sich damals noch alle Rebellen nannten.

Es waren blutjunge Kerle, nicht älter als 20 Jahre, die etwas unbeholfen mit ihren Kalaschnikows hantierten und Fahrzeuge kontrollierten. „Wir sind hier in diesem Gebiet die Herren“, meinte einer der Rebellen lachend. Im Pass suchte er nach einem Einreisestempel aus dem Iran, Teheran unterstützte schon damals das Regime von Präsident Bashar al-Assad. „Nein, nein, mit Iran kommt hier niemand durch“, sagte er ernst.

Es war eine aberwitzige Situation. Nach 25 Kilometern war das von der FSA besetzte Gebiet zu Ende. Nun kontrollierte das syrische Militär die Papiere und überprüfte Kofferräume. Es waren wieder sehr junge Männer, zum Teil nur halb uniformiert, die bei 40 Grad die Autos durchsuchten. Vor ihren Zelten stand ein Schützenpanzer. Von den FSA-Stellungen trennten sie höchstens zwei Kilometer. Erst dann konnte man die Außenbezirke Aleppos erreichen.

Von der Blüte ins Chaos. Aleppo. Die Stadt im Norden Syriens galt immer als die Perle des Landes, eine blühende Metropole. Selbst, als im Bürgerkrieg andere syrische Städte im Chaos versanken, blieb Aleppo lange Zeit ein Ruhepol im zerrissenen Land. Nur ferner Artilleriedonner erinnerte nachts daran, dass der Bürgerkrieg bereits im vollem Gang war. Sonst folgte das Leben dem althergebrachten Rhythmus, für den es so bekannt und geschätzt war. Auf riesigen Märkten verkauften Händler der Gegend an Hunderten Ständen Auberginen, Zitronen, Pfirsiche, frischen Koriander und Petersilie. Durch die Altstadt, ein Gewirr von Gassen, mit alten Steinpflastern und Arkaden, wehte der Duft von Rosenblättern und Parfüm. Bei den Edelmetallschmieden funkelten die Gold- und Silberschmuckstücke in den Auslagen. Auf Gehsteigen und in Cafés rauchten Männer Wasserpfeife und spielten Backgammon. In Aleppo lebten Araber, Assyrer und Kurden friedlich miteinander.

„Niemand wird es wagen, die Perle von Aleppo zu zerstören“, glaubten viele Bewohner noch im Juni 2012. Als Wirtschaftsmetropole sei sie viel zu wichtig, meinten damals Samir und John, zwei junge Armenier im Café Baron, die dort die Spiele der Europameisterschaft ansahen. Denn 50 Prozent aller Industriearbeiter des Landes produzierten in der Region Textilien, Medikamente, Elektrogeräte und alkoholische Getränke. „Und die Rebellen haben sich in Aleppo bisher keine Freunde gemacht“, betonte Samir, der eine Sprachschule unterhielt. „Sie verhalten sich wie Kriminelle.“

Sein Freund John konnte ein Lied davon singen. Er betrieb eine Fabrik für Elektroteile im Industriegebiet Aleppos. „Die Rebellen kommen und befehlen uns Unternehmern, am Freitag und Samstag zu schließen, damit es wie ein Streik aussieht.“ Wer den Anweisungen nicht folge, werde bestraft, erzählte John weiter. „Die beiden Fabriken meiner Nachbarn wurden bereits von der sogenannten Freien Syrischen Armee niedergebrannt.“ Sollten die Rebellen Aleppo wirklich angreifen, werde das in einem Chaos enden. „Denn die meisten der Bewohner sind gegen sie“, versicherten John und Samir. „Alle wollen zwar politische Reformen, aber nicht auf diesem brutalen, blutigen Weg.“


Angriff auf die Stadt. Die FSA ließ sich jedoch von ihrer Offensive nicht abhalten. Sie war im Sommer 2012 in dem festen Glauben, die Einnahme Aleppos entscheide den Bürgerkrieg zu ihren Gunsten. Als sie ihren Angriff am 19. Juli begann, war das– wie Samir und John prophezeiten – der Anfang einer Tragödie für die historisch und kulturell so bedeutsame Stadt und ihre Einwohner. Zumal der Angriff schlecht geplant war und den FSA-Milizionären mittendrin die Munition ausging. Sie mussten sich mit dem Ostteil Aleppos begnügen. Die Perle des Landes war plötzlich zweigeteilt.

Als Reaktion rief das Regime zur „Mutter aller Schlachten“ auf und führte einen unbarmherzigen Krieg. Heute, vier Jahre später, steht Ostaleppo kurz vor der kompletten Rückeroberung. Das wäre für Damaskus der bisher größte Triumph des Bürgerkriegs. Dank russischer Luftangriffe und schiitischer Hilfstruppen aus dem Iran, Irak und Libanon ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis das letzte von den Rebellen kontrollierte Gebiet fällt. Jeden Tag verkleinert sich ihr Areal immer mehr.

Nur die sagenhafte Stadt, die Aleppo früher einmal war, existiert längst nicht mehr. Sie ist ein Trümmerfeld aus Ruinen, in dem rund 30.000 Menschen ihr Leben gelassen haben. Bei der Syrien-Konferenz in Paris warf US-Außenminister John Kerry Assad Kriegsverbrechen vor, und erneut verlange die internationale Gemeinschaft eine Feuerpause für Aleppo.

Schwarze Fahne. Im Hauptquartier der FSA wehte sofort nach der Besetzung Ostaleppos die schwarze Flagge mit dem muslimischen Glaubensbekenntnis oben auf dem Dach. Nach dem abendlichen Fastenbrechen im Monat Ramadan wurden gefangene Schabiha verhört, wie kriminelle Handlanger des Regimes bezeichnet wurden. Wer von ihnen nicht gestand, wurde gefoltert. Ihre Schreie hallten laut durch die Flure des Gebäudes in die Nacht hinaus. Am Morgen folgten Exekutionen. Die Einschusslöcher an den Wänden im Hof wurden jeden Tag mehr.

„Auge um Auge, das ist die Scharia“, rechtfertigte sich ein bärtiger FSA-Kommandant hinter seinem Schreibtisch. Spätestens im August 2012 war klar: Diese Rebellen hatten wenig mit dem Aufbau von Demokratie und Menschenrechten im Sinn. Der Glaube an Gott gab ihnen angeblich übermenschliche Kräfte. „Allah hält alle Kugeln von meiner Brust fern“, rief Mohammed, ein 26 Jahre alter Kämpfer, als er auf der Straße den am Himmel kreisenden Suchoi-Kampfjets zuwinkte. Am nächsten Tag wurde er von Granaten, die aus einer solchen Maschine abgefeuert worden waren, in Stücke gerissen.

Die Euphorie unter den Rebellen war nach der Einnahme des Ostteils von Aleppo kaum zu bändigen. „Sehr bald erobern wir auch den anderen Teil und dann wird Assad gestürzt“, versicherte Mahmoud Sheik el-Zour wenige Wochen nach der Offensive, ganz in der Nähe der Zitadelle, von der ein Heckenschütze feuerte. „Wir brauchen jedoch mehr Unterstützung aus dem Westen“, meinte der 52-Jährige und schob die Brille zurecht.

In den 1980er-Jahren ist el-Zour unter Hafez Assad, dem Vater von Bashar, zwei Jahre im Gefängnis gesessen und gefoltert worden. Danach erhielt er Asyl in Amerika. Als die Revolution begann, entschied er sich sofort mitzukämpfen, ließ Frau und Kinder von einem Tag auf den anderen zurück. Mit dem finanziellen Rückhalt eines Geschäfts, das Bagger und Planierraupen verkauft, konnte er eine eigene Kampfbrigade und ein Trainingslager aufbauen. „Sehr bald werden wir in Damaskus als Sieger einmarschieren.“ Davon war el-Zour fest überzeugt.

Die Stunde der Islamisten. Aber schon ein Jahr später war jede Hoffnung dahin. 2013 sind die radikalen Islamisten der al-Nusra-Front zu einer führenden Kraft innerhalb der Opposition geworden. Zudem treibt der sogenannte Islamische Staat (IS) sein Unwesen. „Dafür trägt der Westen allein die Verantwortung“, klagt el-Zour, der sich mittlerweile frustriert aus dem Bürgerkrieg zurückgezogen hat. Wie viele andere hat auch er gedacht, der Umsturz des Regimes würde nur einige wenige Monate dauern. Der Geschäftsmann hätte trotzdem sicherlich noch länger durchgehalten. Aber er war nicht nur enttäuscht, sondern vollkommen desillusioniert. El-Zour sah die Zersplitterung des Widerstands in unzählige Fraktionen, die sich gegenseitig um Waffen, Geld, Macht und den wahren Islam stritten. So war an ein positives Resultat der Revolution kaum zu denken. Für das ehemalige Folteropfer des Regimes gab es am Ende des Tunnels kein Licht mehr.

El-Zour verließ Syrien und lebte in einem Einfamilienhaus mit Vorgarten im türkischen Antakya. Von seinen ehemaligen Mitstreitern wurde er dafür beschimpft und erhielt auch Morddrohungen. „Die USA und Europa haben uns im Stich gelassen“, monierte er in seinem Wohnzimmer mit einem Teeglas in der Hand. Für ihn sei es kein Wunder, dass die Islamisten so immensen Zulauf haben: „Niemand vertraut dem Westen mehr“, meinte er. „So oft schon wurden Waffen versprochen, aber dann kommt nichts.“

Besonders in Aleppo sei das tragisch. Denn dort würden die Menschen Tag für Tag vom Assad-Regime massakriert. „Die ganze Welt sieht tatenlos zu“, fügte el-Zour verbittert hinzu. In Antakya startete er eine Initiative, die syrischen Mädchen und Frauen ein Einkommen sicherte. Sie strickten und häkelten in einer kleinen Fabrik, die im ersten Stock eines Wohnhauses eingerichtet war. Daneben wurden Uniformen und Abzeichnen für syrische Rebellengruppen geschneidert.

Kommandant Abu Ali war nicht minder enttäuscht vom Gang der Revolution. Er ist jedoch geblieben und hat weitergekämpft. Vor dem Aufstand im März 2011 hatte der Mann mit liberaler Einstellung eine gut gehende Textilfabrik. Nun ist sein ganzes Vermögen weg, nachdem er es in eine eigene Brigade in Aleppo gesteckt hat. „Wir sind immer die Dummen“, meinte der muskulöse 40-Jährige Anfang 2014. „Vom Obersten Militärrat kommt außer wenigen und veralteten Waffen nichts.“ Alle Gruppen hingen an der kurzen Leine ihrer ausländischen Gönner. „Die Waffenlieferungen reichen zum Sterben, aber nicht für den Sieg“, fügt er zynisch hinzu. Hilflos musste er zusehen, wie islamistische Organisationen anwuchsen, mehr Waffen besaßen und damit eine Schlacht nach der anderen gewannen.

Tausende desillusionierte Männer desertierten 2013 zu den Islamisten von Ahrar al-Sham, der al-Nusra-Front und dem IS, die bessere Waffen und Gehälter versprachen. „Der Westen spricht von Demokratie in Syrien, aber wie sollen wir die Leute davon überzeugen, wenn er uns im Stich lässt?“ Es ist der immer gleiche Tenor, mit den sich vorwiegend Rebellen im Umkreis der FSA bis heute zu unschuldigen Opfern der Weltpolitik stilisieren. Der Westen hat an allem schuld. Und jetzt um so mehr, da der Fall von Ostaleppo unmittelbar bevorsteht. „Wie konnte die Welt nur so lang dabei untätig zusehen, wenn Frauen und Kinder vom Regime abgeschlachtet werden?“, klagt Ismail Alabdullah von der Hilfsorganisation der Weißen Helme in Aleppo. „Was ist das nur für eine verkommene Doppelmoral“, ist von Aktivisten der Revolution in sozialen Netzwerken zu lesen.

Versäumnisse. Dabei hat die Opposition gegen das Assad-Regime von Anfang an versäumt, sich von radikalen Islamisten zu distanzieren. In Aleppo bejubelte die Bevölkerung die al-Nusra-Front, als sie durch die Straßen zog. Selbst bei den Friedensgesprächen der UN in Genf wurde Mohammed Alloush, ein ausgewiesener Islamist, zum Verhandlungsführer der Opposition ernannt. Wieso sollte der Westen Organisationen unterstützen, die in Wirklichkeit nichts mit ihm zu tun haben wollen? Zumal es aufseiten der Rebellen keine Bereitschaft zu Kompromissen gab, die gerade in Aleppo das Leben von Tausenden von Zivilisten hätten retten können.

Nach einem Tee mit Abu Ali zeigte er stolz die Befestigungsanlagen seiner Brigade in Aleppo. In einer früheren Mercedes-Werkstatt lagen selbst gebastelte 50-Kilogramm-Bomben: „Sie sollen nur kommen, wir sind gerüstet.“ Aber die Verteidigungslinien der Rebellen in Ostaleppo sind längst zusammengebrochen. Ein neues Blutbad der Armee soll bevorstehen, sagen Beobachter. Für die Rebellen naht die letzte Schlacht um die Perle Syriens.

Zahlen

2,1 Millionen Menschen lebten vor Ausbruch des Krieges in der einstigen Handelsmetropole Aleppo. Es war die größte Stadt Syriens.

Rund 100.000 Zivilisten sollen sich noch in dem immer kleiner werdenden Rebellengebiet im Osten der Stadt aufhalten.

Mehr als 250.000 Zivilisten saßen vor Beginn der letzten Offensive in Ostaleppo fest. Allein in den vergangenen Tagen sind Zehntausende geflohen.

Über 300.000 Opfer hat der seit mehr als fünf Jahren tobende Bürgerkrieg in Syrien bereits gefordert. 30.000 sind bisher in Aleppo ums Leben gekommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2016)

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