Türkei: Warnung vor neuem Putsch

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Die anhaltende Gewaltwelle trotz massiver Sicherheitsmaßnahmen bringt Präsident Erdoğan in die Defensive. Ein früherer Militärstaatsanwalt sieht einen neuen Aufstand der Streitkräfte herandämmern.

Ankara. Nach dem zweiten schweren Bombenanschlag in der Türkei innerhalb einer Woche – am Samstag tötete ein Selbstmordattentäter im zentralanatolischen Kayseri 14 Soldaten mit einer Autobombe – wächst die Angst vor neuen Gewalttaten. Im südtürkischen Adana veröffentlichte die Polizei am Sonntag neun Autokennzeichen, die möglicherweise für weitere Bombenfahrzeuge benutzt werden könnten. Die Regierung verdächtigte die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK, für diesen Anschlag sowie jenen in Istanbul verantwortlich zu sein, bei dem vor einer Woche 44Menschen, vor allem Polizisten, umkamen. Der Terror, die Verrohung der Gesellschaft und Hoffnungslosigkeit in Teilen der Bevölkerung bringen Präsident Recep Tayyip Erdoğan in die Defensive. Während am Sonntag die Opfer des jüngsten Anschlags beerdigt wurden, inspizierte er mit dem Emir von Katar mit Hubschrauber und Luxusautos ein Skigebiet im Nordosten der Türkei. In dieser Atmosphäre allgemeiner Verunsicherung sorgt ein Ex-Militärstaatsanwalt mit der Warnung vor einem zweiten Putschversuch der Streitkräfte für Wirbel: Erdoğan riskiere einen zweiten Putsch, schrieb Ahmet Zeki Üçok auf Twitter. Seit dem Putschversuch im Juli nehme das Chaos zu, die Türkei habe den Tod von immer mehr Soldaten zu beklagen, die innerhalb der Landesgrenzen, im Irak oder in Syrien getötet würden.

Zugleich wachse der Druck auf die Wirtschaft. Dabei sei es für die Menschen in der Türkei trotz aller Unterschiede und Gegensätze möglich, friedlich zusammenzuleben. Aber: „Wenn der Präsident nicht für die Einheit und das Zusammenleben sorgen kann, gibt es am Ende einen Putsch.“

Spekulationen über einen neuen Aufstand machen seit dem gescheiterten Staatsstreich vom Sommer immer wieder die Runde. Die regierungsnahe Presse warnte mehrmals vor Versuchen der als Drahtzieher des Juli-Putsches bezeichneten Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen, die Macht an sich zu reißen. Nach der Entlassung von mehr als 100.000 Beamten aus Armee, Polizei, Justiz und Bildungssystem sowie der Inhaftierung von 40.000 Verdächtigen stellt sich die Frage, wer einen solchen Schlag gegen die Regierung führen könnte. Laut Ücok könnte der Putschversuch aus der Armee kommen, in der weiter starke regierungskritische Kräfte existieren, sofern sie nicht die (schweigende) Mehrheit stellen.

Die Regierung wirkt ratlos

Da selbst das nach dem Putschversuch vom Juli verhängte Notstandsrecht die mutmaßlich kurdischen Gewalttäter nicht stoppen kann, wirkt die Führung in Ankara inzwischen ratlos. Ministerpräsident Binali Yıldırım räumte ein, die Sicherheitsbehörden könnten nicht alle Selbstmordattentäter rechtzeitig aufspüren. Kritiker werfen der Regierung vor, im Zuge der Säuberungen viele erfahrene Beamte der Terrorabwehr von ihren Posten entfernt und so die Aufklärungsarbeit geschwächt zu haben. Yıldırıms Aussage deutet an, dass sich die Türken auf weitere Anschläge gefasst machen müssen.

Kurden orten „Pogromstimmung“

Rechtsnationalisten lassen ihre Wut unterdessen an der Kurdenpartei HDP, der drittstärksten Partei, aus. Sie zündeten HDP-Büros an, in sozialen Medien kursieren Aufrufe zum Mord von Abgeordneten und Funktionären. Der deutsch-türkische HDP-Parlamentarier Ziya Pir sprach gegenüber der Deutschen Presse-Agentur von „Pogromstimmung“. Abgeordnete der Regierungspartei AKP riefen dazu auf, Angreifer anzuzeigen. Auf Twitter teilte der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Parlament, Mustafa Yeneroğlu, mit: „Im Rechtsstaat gibt es keine Selbstjustiz.“ Dennoch dürften die Angriffe die Wut vieler Kurden weiter anfachen. Die Friedenstauben seien im Gefängnis, schrieb der Kolumnist Aydın Engin, der selbst erst kürzlich aus der Haft entlassen wurde, in der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ am Sonntag: „Es ist der Tag der Falken.“

AUF EINEN BLICK

Der Terror, die Verrohung der Gesellschaft und die Hoffnungslosigkeit in Teilen der Bevölkerung bringen Präsident Recep Tayyip Erdoğan zusehends in die Defensive. Ahmet Zeki Üçok, ein früherer Militärstaatsanwalt, sieht schon einen zweiten Staatsstreich am Horizont dämmern, weil das Land sichtlich ins Chaos abgleite, westliche Verbündete verstöre und die Wirtschaft leide.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2016)

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