Der Tag danach: Berlin kämpft gegen die Angst

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Der Tag danach. Menschen gehen zur Arbeit. Eltern bringen Kinder in die Schule. Der Lkw, mit dem elf Menschen getötet und fast 50 verletzt wurden, wird abgeschleppt. Die Stadt bemüht sich um Normalität, sie will in ihren Alltag zurück. Aber sie kann nicht.

Berlin. An der Oberfläche ist alles wie immer. Berlin ist am Dienstagmorgen in Bewegung, schnell, geschäftig. Menschen gehen zur Arbeit. Eltern bringen Kinder in die Schule. Die U-Bahn fährt und ist voll. Kopfhörer stecken in Ohren, Finger wischen über Handys. Auf manchen sind Bilder zu sehen: Tannenbäume, Markthütten, grelle Lichter. Ein Weihnachtsmarkt. Der Weihnachtsmarkt.
Die Nacht war unruhig in der Stadt. Der Morgen ist es auch. Es liegt etwas in der Luft, das sich nicht in Worte fassen lässt. Etwas Schlimmes ist passiert, und man weiß noch nicht, wie man damit umgehen soll. Also schweigt man. Und tut so, als wäre nichts gewesen. Alltag kann langweilig sein. Aber er kann auch Halt geben.

Am Bahnhof Zoo ist der Ausgang zur Breitscheidstraße blockiert. Man muss einen Umweg gehen und kommt doch nicht ganz hin. Der Weihnachtsmarkt ist abgesperrt, mit rot-weißen Bändern. Polizisten patrouillieren. Einer isst eine Banane. Überall stehen Kamerateams, hauptsächlich ausländische Journalisten, Russen, Norweger, Italiener. Österreicher. Man kennt einander und grüßt sich. Es riecht noch nach Glühwein.

Hinter der Absperrung, zwischen den Marktständen, kann man ihn noch sehen, den schwarzen Lkw. Mit ihm als Waffe wurden elf Menschen getötet (ein Mann wurde erschossen) und 48 verletzt, 30 davon schwer. Manche kämpfen um ihr Leben. Man weiß nicht, wer am Steuer saß. War es ein Flüchtling, jemand, der in Deutschland um Asyl angesucht hat? Jemand, dem Deutschland geholfen hat?

Symbolträchtiger Ort

Die Umstände hätten symbolträchtiger nicht sein können: Wenige Tage vor Weihnachten, ein Adventmarkt, direkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, einem Mahnmal gegen Krieg und Zerstörung, in Charlottenburg, dem Zentrum von Westberlin. Nein, dieser Ort wurde nicht spontan ausgewählt.

Menschen legen Rosen nieder. Zünden Kerzen an. Weinen. Im Inneren der Gedächtniskirche, wo am Abend der Gedenkgottesdienst stattfinden wird, steht ein Priester bereit. Er hört jenen zu, die Trost suchen. Auch hier brennen Kerzen. Eine Frau weint in den Armen eines Mannes.

Kanzlerin Angela Merkel legt am Anschlagsort einen Kranz nieder
Kanzlerin Angela Merkel legt am Anschlagsort einen Kranz niederAPA/AFP/TOBIAS SCHWARZ


Draußen werden Passanten von Journalisten befragt. Die Antworten ähneln einander. Es geht immer ums Nicht-fassen-Können. Unglaubliche Geschichten sind zu hören. Eine junge Frau, die am Montagabend eine Verabredung auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche hatte, aber krankheitsbedingt absagen musste. Eine Ärztin, die am Montagabend da war und ein Opfer reanimiert hat. Vergeblich.

Dann wird der Lkw weggebracht. Ein Sattelschlepper schiebt hinein und blinkt, um dieses kaputte, schwarze, mächtige Ding abzuschleppen. Die Lichter vermischen sich mit der bunten Weihnachtsbeleuchtung. Kameraleute filmen, Passanten staunen oder filmen. Ist das wirklich passiert?

Es hat Warnungen gegeben. Deutschland sei im Visier radikalislamischer Terroristen, hieß es. Seit Wochen und Monaten. Zwischenzeitlich wurden Anschläge vereitelt. Im Oktober hat die Polizei einen Flüchtling aus Syrien festgenommen, der einen Anschlag auf einen Berliner Flughafen geplant hatte. Die Sicherheitskräfte waren wachsam gewesen. Die Menschen fühlten sich sicher, in Deutschland, in Berlin. Aber hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Das weiß man jetzt. Und will es doch nicht wahrhaben.

Ein Kondolenzbuch wird am Vormittag in der Gedächtniskirche aufgelegt. Menschen können hier ihre Trauer in Worte fassen. Auch in anderen Kirchen Berlins finden Gottesdienste statt. Die Fahnen wehen auf halbmast. Man rückt näher zusammen.
Rund um die Gedächtniskirche geht das Leben weiter, irgendwie. Menschen machen Einkäufe. Ein Läufer schlängelt sich durch. Eine Frau will wissen, ob man den Breitscheidplatz nach wie vor nicht passieren könne. Nein, noch nicht. Nur außen herum.

Von Frankreich lernen

Auf der anderen Seite hält ein Radfahrer an einer Litfaßsäule und bringt eine Zeichnung an. Er hat zu wenig Klebeband, ein Passant hilft mit einem Kaugummi aus. Er komme aus Hamburg, sagt der Zeichner. Rechts oben in seinem Bild ist das Hamburger Stadtwappen zu sehen. Ein Zeichen der Solidarität. Mit Berlin. Darunter steht: „Même pas peur“ – „Nicht einmal Angst“.

Die Zeilen stammen aus dem gleichnamigen Lied der Sängerin Lucie Bernardoni, geschrieben nach dem Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ im Jänner 2015. Frankreich hat, so traurig das klingt, Erfahrung mit islamistisch motiviertem Terror. Deutschland bisher noch nicht so viel. Von den Franzosen, sagt der Radfahrer aus Hamburg, könne man lernen, wie man damit umgeht: „Nicht einmal Angst.“ Ein letzter Blick auf seine Zeichnung, dann steigt er auf das Fahrrad und fährt davon.

Am Nachmittag kommt die Kanzlerin auf den Breitscheidplatz, um sich ein Bild zu machen. Innenminister Thomas de Maizière, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Bürgermeister Michael Müller begleiten Angela Merkel. Der Schrecken steht allen ins Gesicht geschrieben. Geäußert hat sich die Kanzlerin schon zu Mittag: Deutschland dürfe sich durch diesen Anschlag nicht einschüchtern oder von seiner freien Lebensart abbringen lassen. Man werde die Kraft finden „für das Leben, wie wir es in Deutschland leben wollen: frei, miteinander, offen“, sagte Merkel. „Wir wollen nicht, dass uns die Angst vor dem Bösen lähmt.“
Berlin kämpft gegen diese Angst. Aber es ist verdammt schwer.

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