Berlin: Kein Kontakt zu freigelassenem Verdächtigen

Polizisten in Berlin.
Polizisten in Berlin.APA/AFP/CLEMENS BILAN
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Die Polizei führte auf der Suche nach Amis A. eine Razzia in einem Flüchtlingsheim durch. Den festgenommenen und wieder freigelassen Pakistani haben die Behörden aus den Augen verloren.

Der nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt zunächst festgenommene und später wieder freigelassene Pakistaner ist für seine Familie anscheinend nicht mehr erreichbar. Der Vater des 23-jährigen Flüchtlings sagte der pakistanischen Zeitung "Dawn", sein Sohn habe ihn nach der Freilassung am Dienstag nicht kontaktiert.

Ein in Berlin lebender pakistanischer Aktivist aus Baluchistan, der Heimat des jungen Mannes, sagte der Zeitung, der junge Mann sei auch nicht in seine Flüchtlingsunterkunft zurückgekehrt. Er selbst stehe mit dem Leiter der Unterkunft in Kontakt, das Telefon des 23-Jährigen sei aber ausgestellt. Die Berliner Polizei verwies auf Anfrage auf die deutsche Bundesanwaltschaft, die für eine Stellungnahme zunächst nicht erreichbar war.

Unterdessen geht die Fahndung nach dem tatverdächtigen Amris A. weiter. Am Donnerstag haben deutsche Polizisten eine Flüchtlingsunterkunft im nordrhein-westfälischen Emmerich durchsucht. Die Aktion, an der schätzungsweise 100 Beamte beteiligt waren, darunter Spezialeinsatzkräfte, war nach etwa einer Stunde beendet.

Bereits am Mittwoch hatten in der Nähe des Heimes Polizisten Position bezogen. Ein Sprecher der Polizei wollte sich zu der Durchsuchungsaktion nicht näher äußern und verwies auf den Generalbundesanwalt. Aus Karlsruhe war zunächst keine Stellungnahme zu bekommen. Am Donnerstag hatte es auch Berichte über eine Razzia in Berlin und die Festnahme von vier Personen, die in Kontakt mit A. standen, gegeben. Die Staatsanwaltschaft dementierte aber beide.

Fahndung nach Anis A.

Der 24-jährige A. sei "dringend tatverdächtig", schreiben Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt in ihrem öffentlichen Aufruf. Gegen den Mann wurde bereits früher in Berlin wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat ermittelt - allerdings ohne Ergebnis. Medienberichten zufolge hat der Verdächtige ein langes Vorstrafenregister: Er soll bereits in Italien und Tunesien zu langen Haftstrafen verurteilt worden sei.

Die deutsche Bundesanwaltschaft rief die Bevölkerung zur Mithilfe auf und setzte 100.000 Euro Belohnung aus - das Schreiben dazu wurde auch auf Arabisch, Dari, Farsi und Urdu veröffentlicht. Zugleich mahnte sie zur Vorsicht: "Bringen Sie sich selbst nicht in Gefahr, denn die Person könnte gewalttätig und bewaffnet sein!" Im Berliner Stadtteil Kreuzberg überprüfte ein Spezialeinsatzkommando der Polizei am Mittwochabend einen Mann, bei dem es sich aber nicht um A. handelte. Auch europaweit wird nach ihm gefahndet.

Seine Duldungspapiere wurden in dem Lastwagen gefunden, der am Montagabend auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gefahren war. Zwölf Menschen wurden getötet, rund 50 teils lebensbedrohlich verletzt. Ein zunächst festgenommener Pakistaner kam wieder frei.

(c) APA/AFP/POLICE JUDICIAIRE/HANDOU (HANDOUT)

Observierung wurde verlängert

Gemeldet war der gesuchte Tunesier in einer Asylbewerberunterkunft in Nordrhein-Westfalen, laut "Spiegel Online" in Emmerich bei Kleve. Nach Angaben der NRW-Landesregierung war er 2015 über Freiburg nach Deutschland eingereist und verwendete mehrere Identitäten. Seit Februar hielt er sich demnach vor allem in Berlin auf.

Dort wurde A. nach Hinweisen von Bundesbehörden von März bis September dieses Jahres überwacht, wie die Generalstaatsanwaltschaft mitteilte. Es habe Informationen gegeben, wonach der in Nordrhein-Westfalen als islamistischer Gefährder geführte Verdächtige einen Einbruch plane, um Geld für den Kauf automatischer Waffen zu beschaffen - "möglicherweise, um damit später mit noch zu gewinnenden Mittätern einen Anschlag zu begehen", hieß es.

Die Observierung und Überwachung der Kommunikation sei sogar verlängert worden, habe aber keine Hinweise auf ein staatsschutzrelevantes Delikt erbracht, erklärte die oberste Berliner Ermittlungsbehörde. Es habe lediglich Hinweise gegeben, dass A. als Drogendealer tätig und an einer körperlichen Auseinandersetzung, vermutlich in der Dealerszene, beteiligt gewesen sein könnte. Deshalb sei die Überwachung im September beendet worden.

Anis A. soll sich im Internet auch über den Bau von Sprengsätzen informiert und direkten Kontakt zum IS gehabt haben. Das berichtet jedenfalls die "New York Times" unter Berufung auf Aussagen nicht näher genannter amerikanischer Offizieller vom Mittwochabend. Unklar blieb zunächst, auf welchen Zeitraum sich diese Angaben beziehen.

Aufräumarbeiten nach dem Anschlag in Berlin
Aufräumarbeiten nach dem Anschlag in BerlinReuters

Die Sicherheitsbehörden tauschten nach Worten von NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) ihre Erkenntnisse über Anis A. im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum aus, zuletzt im November 2016. Laut "Süddeutscher Zeitung", NDR und WDR tauchte er im Dezember unter. Demnach hatte er Kontakte zum Netzwerk des kürzlich verhafteten Hildesheimer Predigers Abu Walaa, den Jäger früher einmal als "Chefideologen" der Salafisten in Deutschland eingestuft hatte.

Anis A. wurde bereits im Juni als Asylbewerber abgelehnt, wie Jäger erklärte. "Der Mann konnte aber nicht abgeschoben werden, weil er keine gültigen Ausweispapiere hatte." Tunesien habe lange Zeit bestritten, dass es sich um seinen Staatsbürger handle. Die für die Abschiebung wichtigen tunesischen Ersatzpapiere seien erst an diesem Mittwoch bei den deutschen Behörden eingetroffen, sagte der Minister.

Familie in Tunesien hat keinen Kontakt

In Tunesien verhörten Ermittler nach einem Bericht der Zeitung "Al-Chourouk" die Familie des möglichen Attentäters in der nordöstlichen Provinz Kairouan, einer Salafisten-Hochburg. Die Familie habe ausgesagt, dass sie keinen steten Kontakt mit A. hatte, seitdem er das Haus Ende 2010 verlassen habe. Sein Vater sagte dem tunesischen Sender Mosaique FM, Anis A. habe Tunesien vor rund sieben Jahren verlassen. Dem Bericht zufolge wurde er in Abwesenheit wegen Raubes zu fünf Jahren Haft verurteilt. Nach dem Anschlag in Berlin führten die tunesischen Behörden laut "Welt" Ermittlungen zu Anis A. und seiner Familie durch. Ersten Erkenntnissen zufolge habe er 2010 einen Lastwagen gestohlen und sei daraufhin zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden.

2011 kam er als Flüchtling nach Italien, wie die dortige Nachrichtenagentur Ansa berichtete, und wurde in einem Auffanglager auf Sizilien untergebracht. Weil er Sachbeschädigungen und "diverse Straftaten" beging, kam er demnach in Palermo vier Jahre ins Gefängnis. Nach Informationen der "Welt" wurde er wegen Gewalttaten, Brandstiftung, Körperverletzung und Diebstahls verurteilt. Mithäftlinge hätten ihn als gewalttätig beschrieben.

Unklar, ob IS verantwortlich ist

Im Frühjahr 2015 wurde Anis A. laut Ansa entlassen, konnte wegen Problemen mit den tunesischen Behörden aber nicht ausgewiesen werden. Er sei dann nach Deutschland weitergereist. Den italienischen Behörden liegen nach Information der "Welt" Fingerabdrücke vor. Sie könnten dabei helfen, offene Fragen zum Tathergang in Berlin zu klären. So ließe sich durch Vergleiche mit Fingerabdrücken am Lkw und Tatort möglicherweise eindeutig feststellen, ob Anis A. am Steuer des Sattelschleppers saß. Bisher ist das nicht erwiesen.

Unklar ist auch, ob die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) wirklich hinter dem Anschlag steht. Sie hat den Angriff für sich reklamiert und sich schon in der Vergangenheit immer wieder über ihr Sprachrohr Amak zu Anschlägen in unterschiedlichen Ländern bekannt. Täterwissen gab der IS - wie in früheren Fällen - nicht bekannt. Derweil hat die Polizei ihre Tatortarbeit auf dem Breitscheidplatz abgeschlossen und ihn offiziell wieder freigegeben. Der nach dem Anschlag geschlossene Weihnachtsmarkt zu Füßen der Gedächtniskirche soll am Donnerstag wieder öffnen. Um 11.00 Uhr soll es in der Kirche zudem eine Andacht geben.

(APA/dpa/AFP)

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