Unter Protesten der Opposition hat das Parlament den ersten Artikel der Verfassungsreform angenommen. Am Dienstag startete der erste Prozess gegen mutmaßliche Putschisten.
Trotz wütender Proteste aus der Opposition hat die Verfassungskommission des türkischen Parlaments erste Artikel der geplanten Verfassungsreform für ein Präsidialsystem angenommen. Die ersten beiden von insgesamt 21 Artikeln seien bei der mehr als 15-stündigen Sitzung in der Nacht zu Dienstag angenommen worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.
Dabei handelt es sich unter anderem um die Aufstockung der Zahl der Abgeordneten von 550 auf 600. Die Regierungspartei AKP will auf Betreiben von Staatschef Recep Tayyip Erdogan ein Präsidialsystem einführen. Sie wird dabei von der ultranationalistschen MHP unterstützt.
Nachdem die Verfassungskommission die Vorschläge angenommen hat, muss das Parlament über die Reform abstimmen. 330 der 550 Abgeordneten sind notwendig, um das von Erdogan angestrebte Referendum abzuhalten. Die islamisch-konservative AKP und die kleinste Oppositionspartei MHP hätten dafür gemeinsam eine ausreichende Mehrheit. Hat das Parlament abgestimmt, soll das Volk in einem Referendum über die Reform abstimmen. Die Regierung rechnet im Frühjahr mit der Volksabstimmung.
Erdogan würde Staats- und Regierungschef zugleich
Die beiden anderen Oppositionsparteien - die Mitte-Links-Partei CHP und die pro-kurdische HDP - laufen Sturm gegen die einschneidende Reform. Sie befürchten eine "Diktatur" in der Türkei. Die Änderungen würden Erdogan deutlich mehr Macht verleihen und das Parlament schwächen.
So wird der Präsident nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Zudem darf der Präsident einer Partei angehören. Er kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die mit Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft treten. Eine nachträgliche Zustimmung durch das Parlament (wie im derzeit geltenden Ausnahmezustand) ist im Entwurf nicht vorgesehen. Per Dekret kann der Präsident auch Ministerien errichten, abschaffen oder umorganisieren.
Der Präsident bekommt auch mehr Einfluss auf die Justiz: Im Rat der Richter und Staatsanwälte kann er künftig fünf der zwölf Mitglieder bestimmen, das Parlament zwei weitere. Bisher bestimmen Richter und Staatsanwälte selber die Mehrheit der (derzeit noch 22) Mitglieder des Rates.
Polizisten wegen Befehlsverweigerung angeklagt
In der Türkei ist am Dienstag zudem der erste Prozess gegen mutmaßliche Unterstützer des gescheiterten Putsches eröffnet worden. Angeklagt vor einem Gericht in Silivri westlich von Istanbul sind 29 Polizisten wegen Befehlsverweigerung in der Nacht des 15. Juli, als Militärangehörige Präsident Recep Tayyip Erdogan stürzen wollten.
Nach einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu ignorierten sie Befehle, den Präsidenten-Palast zu verteidigen. So sollen sich drei Hubschrauber-Piloten geweigert haben, Spezialtruppen zum Palast zu fliegen. Die Staatsanwälte fordern für 21 der ehemaligen Beamten lebenslange Haftstrafen, für die übrigen acht Freiheitsstrafen zwischen siebeneinhalb und 15 Jahren. Zwei Verteidiger wiesen die Vorwürfe gegen ihre Mandanten zurück. Die übrigen Vertreter der Angeklagten konnten für eine Stellungnahme zunächst nicht erreicht werden.
Teile des Militärs erhoben sich vergangenen Juli, um die aus demokratischen Wahlen hervorgegangene Regierung abzusetzen. Bei dem auch am massiven Widerstand der Bevölkerung gescheiterten Putsch wurden rund 240 Menschen getötet. Seither wurden rund 100.000 Menschen wegen des Verdachts der Beteiligung an dem Putsch gefeuert oder suspendiert. Rund 40.000 Menschen wurden festgenommen. Die Regierung hat bereits vor Wochen angekündigt, in Ankara ein neues Gerichtsgebäude zu errichten, da die existierenden nicht groß genug seien, um eine derart große Zahl von Angeklagten aufzunehmen.
(APA/dpa)