Kiews Kampf um die verlorenen Seelen im Osten

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Mit einem Ministerium für die „zeitweilig besetzten Gebiete“ will die Regierung den Kontakt mit ihren Bürgern auf der Krim und in den Separatistengebieten fördern. Doch in Kiew sind längst nicht alle von der Sinnhaftigkeit dieser Strategie überzeugt.

Wer sind die Menschen auf der anderen Seite? Sind Ukrainer, die im Jahr 2014 die Ankunft prorussischer Bewaffneter bejubelten, Verräter? Gar Unterstützer von Terroristen? Oder Opfer? Leben sie, wie die aus Donezk stammende Literatin Olena Stjaschkina sagt, unter einer Besatzungsmacht, der sie mit unterschiedlichen Überlebensstrategien begegnen? Der seit zweieinhalb Jahren andauernde Krieg im Donbass hat nicht nur knapp 10.000 Menschen das Leben gekostet, er hat auch das Vertrauen in „die anderen“ erschüttert.

Georgij Tuka hat eine pragmatische Antwort auf diese Fragen: „Dort leben ukrainische Bürger, ob sie nun wollen oder nicht. Als Staat müssen wir sie als unsere Staatsbürger behandeln.“ In der Ukraine gibt es seit April 2016 ein „Ministerium für die Fragen der zeitweilig besetzten Gebiete und Binnenflüchtlinge“. Tuka ist der Vizechef. Hier sollen Antworten auf die Frage gefunden werden, wie man nicht nur die Gebiete, sondern auch die verlorenen Seelen zurückgewinnen könnte.

Georgij Tuka
Georgij Tuka(c) Die Presse/Sommerbauer

Man findet Georgij Tuka in einem spätsozialistischen Klotz von Amtshaus, in einem kleinen Zimmer hinter einer Rumpelkammer am Ende eines langen Gangs. Hier ist alles erst im Aufbau. Kürzlich wurde an der Außenmauer ein Schild des Ministeriums mit dem komplizierten Namen montiert, ein halbes Jahr nach seiner offiziellen Gründung.

Der Vizeminister empfängt zum Gespräch, da der Minister, Wadim Tschernysch, im Ausland weilt. Tschernysch gilt als international präsentabler Beamter, während Tuka der Ruf eines Raubeins vorauseilt. Der in Kiew geborene Tuka war als Unternehmer tätig und machte sich als Unterstützer von Freiwilligenverbänden einen Namen, bevor er von Präsident Petro Poroschenko knapp ein Jahr lang in der Stadt Sewerodonezk als Gouverneur von Luhansk eingesetzt wurde. Dort reiste er von Kopf bis Fuß in Flecktarn gekleidet durch sein Gebiet, hörte sich die Probleme der Bürger an und versuchte, die Not zu lindern. Mittlerweile hat der 53-Jährige die Armeekleidung gegen dunkle Jeans, Wollpullover und Jackett getauscht, vor ihm liegen Bonbons, eine Packung Zigaretten und jede Menge Papier. Tuka, bares Haupt und akkurat gestutzter Graubart, deutet auf den Aktenstapel. „Das muss ich heute noch alles unterschreiben“, sagt er. „Manchmal sehne ich mich nach Sewerodonezk. Da war ich näher am realen Leben.“ In Kiew hat er seine Rhetorik gewechselt. Nur einmal schimpft er über das bewaffnete „Lumpenpack“ von drüben („zu 70 Prozent aus Russland“), das in frontnahen Gebieten Fensterscheiben einschieße. „Dann setzen wir eben neue ein!“

60 Mitarbeiter, aber kein Budget

Die derzeit 60 Mitarbeiter des Ministeriums beschäftigen sich mit den Folgen des Konflikts: von der Lage der Binnenflüchtlinge über die Reparatur von Wasserrohren bis hin zum leidigen Thema der Pensionen, deren Auszahlung in die Separatistengebiete Kiew gestoppt hat. Tuka lobt den kürzlich eröffneten Fernsehturm am Karatschun-Hügel bei Slowjansk, der ukrainische Informationen über einen Teil des nicht kontrollierten Gebiets ausstrahlen soll. Er erzählt von einem Gratisblatt, das den Passagieren an den Checkpoints ausgehändigt wird. Er ist für mehr Bewegungsfreiheit für die Zivilisten und für weniger Beschränkungen. „Jeder Kontakt ist ein Plus für die Reintegration“, sagt Tuka.

Die Existenz des im April 2016 aus einer staatlichen Agentur hervorgegangenen Ministeriums wird vonseiten der internationalen Gemeinschaft und Hilfsorganisationen ausdrücklich begrüßt. Es ist nicht nur eine Anlaufstelle für internationale Hilfe, es soll vor allem Strategien zur Reintegration der nicht kontrollierten Gebiete erarbeiten und Aktivitäten mit anderen staatlichen Stellen koordinieren. Doch im Alltag hat es zu kämpfen: Die Stelle verfügt über keinen eigenen Etat. Das Budget für das nächste Jahr beträgt gerade einmal 24 Millionen Hrywnja (umgerechnet 860.000 Euro), mit dem lediglich Personalkosten und laufende Ausgaben getragen werden. Verglichen mit anderen Ressorts ist es schwach, und es kämpft um seine Daseinsberechtigung. Denn der integrative Ansatz, den die Führung vertritt, stößt in Kiewer Politikkreisen auf Widerstand.

Integration versus Abriegelung

Mit dem Fortdauern des Krieges im Osten sind in der Ukraine Stimmen lauter geworden, die den von der OSZE moderierten Friedensprozess in Minsk missbilligen. Angesichts des aussichtslosen Stellungskriegs ist etwa die Zahl jener gestiegen, die ein „Abriegeln“ des Donbass und der von Russland annektierten Halbinsel Krim befürworten. Mehrere Abgeordnete rund um die Vizeparlamentspräsidentin Oksana Syroid haben einen Gesetzesentwurf eingebracht, der Russland die Sorge um die ukrainischen Bürger im abtrünnigen Donbass sowie der Krim zuschieben soll – de facto eine Legalisierung der Besatzung, die die Ukraine von ihren Pflichten entbinden würde. Ein solcher Schritt stünde in Konflikt mit der ukrainischen Verfassung sowie internationalen Rechtsnormen. Ob das Gesetz in dieser Form je verabschiedet wird, ist unklar. Als Ausdruck einer sich verhärtenden Debatte sollte man es aber ernst nehmen.

Während die Anhänger einer Abspaltung argumentieren, dass eine um Krim und Donbass offiziell „erleichterte“ Ukraine besser vorankommen könnte, entgegnet Tuka unbeeindruckt: „Niemand hindert uns daran, auch heute schon Reformen durchzuführen.“ Spricht man ihn auf die Zahl der Binnenflüchtlinge an, die in diesem Jahr auf die andere Seite zurückgekehrt sind (laut Schätzungen mehr als 200.000), so findet er das eindeutig „schlecht“: „Es bedeutet, dass diese Menschen hier keine Heimat gefunden haben. Was meinen Sie, mit welcher Message diese Leute zurückkehren?“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.12.2016)

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