Die Risiko-Strategie der Angela Merkel

German Chancellor Angela Merkel poses for photographs after the television recording of her annual New Year's speech at the Chancellery in Berlin
German Chancellor Angela Merkel poses for photographs after the television recording of her annual New Year's speech at the Chancellery in BerlinREUTERS
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Die Kanzlerin will es im Wahljahr noch einmal wissen. Sie glaubt, den Widerstand in der Flüchtlingspolitik überwinden und die Union zum Sieg bei der Wahl im September führen zu können.

Wien/Berlin. Angela Merkel hat bisher alle Krisen mehr oder weniger souverän überstanden, und bis zur Flüchtlingskrise ist sie noch aus jeder gestärkt hervorgegangen – als lange unangefochtene Partei- und Regierungschefin und nicht zuletzt als Schirm- und Schutzherrin Europas. Wenn die Kanzlerin in ihrer zwölften Neujahrsansprache, in einer Balance zwischen der nüchternen Schilderung der Herausforderungen und dem Zweckoptimismus der Polit-Veteranin, die Deutschen am Wochenende auf das Wahljahr 2017 einstimmen wird, weiß die kühle Rechnerin nur zu genau, was auch für sie persönlich auf dem Spiel steht – und dass ihr ohne ein wenig Fortüne die Wiederwahl versagt bleiben könnte.

Sie muss befürchten, dass die Wahl im September zu einem Referendum über ihre Flüchtlingspolitik geraten könnte. Das Risiko hat sie einkalkuliert. Dass sich Attacken und sexuelle Übergriffe wie zu Silvester im Vorjahr in Köln – als die Stimmung in weiten Teilen Deutschlands kippte –, dass sich ein Anschlag wie auf dem Weihnachtsmarkt neulich in Berlin nicht wiederholen dürften, wird wohl zu einem Mantra Merkels im Wahlkampf werden. Ob die Kritiker, die sich in Hass-Postings in Internetforen ereifern oder auf Marktplätzen Parolen à la „Merkel muss weg“ skandieren, verstummen werden? Die Kanzlerin hat einen Teil ihrer Wählerschaft verprellt, und es wird ihr kaum gelingen, ihn wieder zurückzugewinnen. Enttäuschte Konservative sind zur rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) abgewandert, ihr Höhenflug als Protestpartei wird trotz interner Turbulenzen auch 2017 weiter anhalten.

Das Beispiel der Patriarchen

Merkel hat offenkundig lange mit sich gerungen, ob sie noch einmal antreten wird, ob sie sich zum vierten Mal um die Kanzlerkandidatur bewerben soll, ehe sie vor dem Parteitag in Essen im Dezember ihre Entscheidung fällte. Wolfgang Schäuble, der Finanzminister und versierte Vollprofi, wäre als Notlösung bereitgestanden. Auch Ursula von der Leyen, die ambitionierte Verteidigungsministerin, beliebt an der Parteibasis, doch wenig gelitten von den Spitzenkadern, hätte sich die Kanzlerschaft zugetraut.

Merkel standen die Beispiele der CDU-Patriarchen Konrad Adenauer und Helmut Kohl vor Augen, die ihre Amtszeit überdehnt haben und die schließlich – im Fall Adenauers – von den Parteifreunden aus dem Amt gedrängt oder – wie Kohl – von den Wählern abgestraft worden sind. Mit der 14-jährigen Ära Adenauers verbinden die Deutschen das Wirtschaftswunder und die Verankerung im Westen, mit der 16-jährigen Ära Kohls die deutsche Einheit. Was aber bleibt von der Ära Merkel, abgesehen vom pragmatischen Regierungsstil und der Modernisierung der Konservativen – der „Sozialdemokratisierung“ der CDU, wie Merkel-Kritiker ätzen?

Die Kanzlerin wolle ihr Werk vollenden, so erklären Insider ihr Motiv; sie wolle die Partei und das Land in der Flüchtlingskrise nicht im Stich lassen. Nach den Rücktritten David Camerons und Matteo Renzis, vor dem Abgang Barack Obamas und François Hollandes sieht sie sich als Einzige auf weiter Flur, die Donald Trump Paroli bieten kann, die Player wie Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan lange genug kennt, um es mit den Autokraten dieser Welt aufzunehmen. Vorerst muss sie indes auf der deutschen Bühne bestehen. Bei der Bundespräsidentenwahl in wenigen Wochen, der Kür des Außenministers Frank-Walter Steinmeier zum Staatsoberhaupt, hat sie den Kürzeren gezogen. SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte sie ausmanövriert. Es wäre nicht Merkel, würde sie nicht ihre Lektion daraus ziehen, um sich gegen Rot-Rot-Grün zu positionieren. (vier)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.12.2016)

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