EU-Türkeibeitritt: "Tage von 1683 liegen weit hinter uns"

Egemen Bagis
Egemen Bagis(c) APA/ANDREAS PESSENLEHNER (ANDREAS PESSENLEHNER)
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EU-Chef-Verhandler Egemen Bagis sprach mit der "Presse" über einen türkischen Vollbeitritt, Energiekrisen, Nabucco und die Türkenbelagerung. Bagis ist seit 2009 erster Europaminister der Türkei.

„Die Presse“: Nachdem zwölf Beitrittskapitel mit der Türkei eröffnet sind: Wie werden die EU-Beitrittsverhandlungen weitergehen?

Egemen Bagis: Zwar ist mehr als die Hälfte der Beitrittskapitel durch einige EU-Länder politisch blockiert. Aber wir sind entschlossen und werden nicht aufgeben. Wir arbeiten gerade an sechs Kapiteln, darunter Energie, und wollen, dass unter der spanischen EU-Präsidentschaft so viele wie möglich eröffnet werden. Am Ende wird eine Win-win-Situation stehen. Es wird ein großartiges Rendezvous stattfinden, sobald die Türkei mit ihrer dynamischen, jungen Gesellschaft der EU beitritt, die ihr wiederum mehr Demokratie, Transparenz und Wohlstand bringt.


Wann könnte es so weit sein?

Bagis: Ich will lieber kein Datum nennen. Aber wir wollen den EU-Acquis (gemeinsamen Rechtsbestand, Anm.) in der Türkei bis Ende 2013 umsetzen. Dann muss die EU entscheiden, wann die Türkei Vollmitglied sein soll. Jedes verhandelnde Land ist am Ende Mitglied geworden. Die Türkei wird nicht die erste Ausnahme sein.


Österreich und andere EU-Länder bevorzugen eine privilegierte Partnerschaft. Wäre dies denkbar?

Bagis: Wir lehnen es ab, überhaupt darüber zu reden, es wäre beleidigend. Es gibt keine andere Option als eine Vollmitgliedschaft. Wenn die Verhandlungen abgeschlossen sind, wird die Türkei ein ganz anderes Land sein als heute, sie tritt ja nicht gleich bei. Ich bevorzuge die Bezeichnung ergebnisoffene Verhandlungen. Sogar katholische Ehen sind heute ergebnisoffen.


Was wären die größten Vorteile für die EU, die Türkei dabeizuhaben?

Bagis: Schon die Verhandlungen garantieren der EU einen viel stabileren Verbündeten. Die Türkei ist auch eine Brücke zu den Energiequellen, die Europa braucht: 70 Prozent liegen rund um die Türkei. Zudem ist sie Barriere gegen illegale Einwanderung und internationalen Terrorismus.

Wie wird es beim Projekt der Nabucco-Pipeline (bis ins Marchfeld, Anm.) weitergehen?

Bagis: Die Türkei arbeitet hart daran, dass turkmenisches, aserbaidschanisches, irakisches und irgendwann iranisches Gas durch die Türkei bis nach Europa strömt. Leider kann die Türkei wegen einer schönen Insel im Mittelmeer das Energiekapitel mit der EU nicht öffnen. Natürlich ist dies nicht Voraussetzung für uns, Nabucco voranzutreiben. Aber es würde die öffentliche Unterstützung in der Türkei für all die Energieprojekte steigern, die Europa von seinen wichtigsten Bedrohungen, Energiekrisen, befreien werden. Die Türkei kann auch ohne EU. Aber kann insbesondere Zypern ohne die Türkei? Es braucht eine ausgewogene Zypern-Lösung.


Neben dem Zypern-Konflikt kritisiert die EU Mängel bei Minderheiten-, Frauenrechten und Medienfreiheit. Was halten Sie für die größten Hürden auf dem Weg in die EU?

Bagis: Die größten Hürden sind Vorteile in der Türkei und in Europa. Aber wir arbeiten daran, Mängel zu beseitigen. Erstmals haben wir eine Regierung, die auf Kurden, Roma, Frauen, Armenier, Griechisch-Orthodoxe oder Aserbaidschaner hört.


Was könnte Österreich noch lernen? Es zählt ja zu den größten Gegnern eines Türkei-Beitritts.

Bagis: Dass die Tage von 1683 (Türkenbelagerung, Anm.) weit hinter uns liegen. In den vergangenen 300 Jahren hatten wir keine diplomatischen Schwierigkeiten. Wir haben Weltprobleme gemeinsam gelöst. Die Dinge, die uns einen, sind so viel größer, als die, die uns trennen. Europa war der Name einer Prinzessin, die in der Türkei lebte. Unsere Zukunft bindet uns noch viel mehr als die Geschichte.


Wo sehen Sie die Grenzen der EU?

Bagis: Die Grenzen der EU sind in den Köpfen der Europäer.


Sie könnte also unendlich sein?

Bagis: Ich glaube an John Lennon, der sagte: Imagine a world without borders (Stell dir eine Welt ohne Grenzen vor).

ZUR PERSON

Egemen Ba???, 39, ist EU-Chefverhandler und seit 2009 erster Europaminister der Türkei. Von 1985 bis 2002 lebte er in den USA, in New York studierte er Personalmanagement. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. [APA]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2010)

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