Armenien-Kritik: "Türkei-Drohung erinnert an Genozid"

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Die Aussage des türkischen Premiers Erdoğan, notfalls 100.000 illegal eingereiste Armenier auszuweisen, sorgt für Spannungen mit der Regierung in Eriwan. Auch an einer anderen Front scheint er unter Druck zu kommen.

ISTANBUL. Die Drohung des türkischen Premiers, Recep Tayyip Erdoğan, notfalls 100.000 in der Türkei illegal arbeitende Armenier auszuweisen, wenn weiter der Vorwurf eines Völkermordes an den Armeniern im Ersten Weltkrieg erhoben werde, hat wie eine Bombe eingeschlagen. Der armenische Premier, Tigran Sargsyan, sagte, solche Erklärungen würden die Armenier an 1915 erinnern.

Damals hatten die Jungtürken eine Deportation aller Armenier des Osmanischen Reiches angeordnet, wobei hunderttausende, nach armenischen Angaben sogar 1,5 Millionen, Armenier starben.

Erdoğan sprach die Drohung in London im Gespräch mit dem türkischen Dienst der BBC nur im Konjunktiv aus. Und der stellvertretende Außenminister, Suat Kiniklioğlu, der Erdoğan begleitete, versuchte sofort, den Worten eine „positive Richtung“ zu geben: Der Premier habe nur die Toleranz der Türkei gegenüber den in der Türkei lebenden Armeniern unterstreichen wollen. Wie Erdoğan seine Worte verstanden wissen wollte, ist eine Sache, für eine Drohung reicht es jedenfalls, auf den Knüppel zu zeigen, man muss ihn nicht in die Hand nehmen.

Neues Verfahren gegen AKP?

Außenminister Ahmet Davutoğlu sah sich jedenfalls genötigt zu erklären, eine Ausweisung von illegalen Einwanderern speziell aus Armenien sähe rassistisch aus und würde der Türkei schaden.

Auch an einer anderen Front scheint Erdoğan unter Druck zu kommen: Laut Medienberichten soll der türkische Generalstaatsanwalt heute, Freitag, ein weiteres Verbotsverfahren gegen Erdoğans Partei AKP einleiten. In einem ersten Verfahren hatte sich das Verfassungsgericht gegen ein Verbot der AKP ausgesprochen.

Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der ultranationalistischen MHP, Oktay Vural, unterstützte unterdessen die Drohungen Erdoğans gegen die Armenier. Er wies auf die hohe Arbeitslosigkeit in der Türkei hin und fand nichts Schlimmes dabei, die Ausweisung als „Trumpf“ gegenüber Armenien zu gebrauchen.

Arbeitsmigration in die Türkei

Die in der Türkei illegal arbeitenden Armenier sind Teil einer bisher kaum wahrgenommenen großen Arbeitsmigration in die Türkei. Es handelt sich überwiegend um Frauen, die im Haushalt arbeiten, Kinder, Alte und Kranke betreuen und putzen. Dazu kommen Männer, die zu Niedriglöhnen in kleinen Fabriken, Handwerksbetrieben und Bäckereien tätig sind. Einige Armenier sind Schuhputzer. Juweliere beschäftigen auch Gehilfen aus Armenien.

Neben Armenierinnen sind viele Frauen aus Georgien und eine noch größere Zahl von Arbeiterinnen und Arbeitern aus den Turk-Republiken Mittelasiens, vor allem aus Turkmenistan, in die Türkei gekommen. Auf dem Höhepunkt der Migration dürfte es sich insgesamt wohl um zwei Millionen Menschen gehandelt haben.

Sie alle sind mit einem nur für drei Monate gültigen Touristenvisum eingereist und dann geblieben. Der positive ökonomische Effekt einer billigen und rechtlosen Arbeiterschaft war früher durchaus willkommen. Wenn die Polizei kontrollierte, so hauptsächlich, um von jeder ertappten Person 50 Lira einzustreifen. Doch seit der Wirtschaftskrise wird strenger kontrolliert, und eine beträchtliche Zahl von illegalen Arbeiterinnen dürfte bereits abgeschoben worden sein.

Nervös geworden sind nicht nur illegale Einwanderer. Sersch betreibt ein Internetcafé in Istanbul. Er ist einer von 70.000 Armeniern, die türkische Staatsbürger sind. Er fürchtet, Erdoğans Äußerungen mache alle Armenier zur Zielscheibe. Wenn hunderttausend „illegale“ Armenier ausgewiesen würden, würde auch die Hälfte der „legalen“ Armenier gehen.

Kurden kritisieren Erdoğan

WIEN (w.s.). Kritik an Erdoğans Drohungen kommt auch von der kurdischen „Partei für Frieden und Demokratie“ (BDP). „Es ist nicht zu akzeptieren, dass ein Premierminister solche Statements von sich gibt“, sagt die Menschenrechtsbeauftragte und Vizevorsitzende der Partei, Meral Daniş-Beştaş, im Gespräch mit der „Presse“. Das Land müsse endlich Vergangenheitsbewältigung betreiben, aber aus einer inneren Dynamik heraus – nicht wegen des Drucks aus dem Westen. „Die Türkei leugnet noch immer, was sie anderen ethnischen Gruppen angetan hat.“ Kommentar, Seite31

AUF EINEN BLICK

70.000 Armenier, die in der Türkei leben, besitzen die türkische Staatsbürgerschaft. Dazu kommen 100.000 Migranten aus Armenien, die illegal in der Türkei leben und arbeiten – vor allem Frauen, die im Haushalt arbeiten, Kinder, Alte und Kranke betreuen und putzen. Die Behörden wissen davon, haben die Anwesenheit der illegalen Einwanderer bisher aber weitgehend toleriert. Premier Erdoğan hat nun gedroht, diese 100.000 Armenier ausweisen zu lassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2010)

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