Antisemitismus in Ungarn: Krankheit ohne Ende

Antisemitismus Ungarn Krankheit ohne
Antisemitismus Ungarn Krankheit ohne(c) APA (PETER BENDA / UNGARISCHES TOURIS)
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Seit Ferenc Gyurcsánys berüchtigter "Lügenrede" von 2006 geht unter Ungarns Juden wieder die Angst um. Vor allem Ältere fühlen sich angesichts antisemitischer Hetzparolen an die Zwischenkriegszeit erinnert.

Anpöbelungen gehören zu meinem Alltag. Manchmal kommt es sogar vor, dass mein Auto von anderen Autofahrern im Straßenverkehr angespuckt wird“, erzählt Slomó Köves. Während des Gesprächs heften sich die wachen Augen des erst 31-jährigen Rabbis der Einheitlichen Israelitischen Glaubensgemeinschaft in Ungarn (EMIH) neugierig auf sein Gegenüber. Köves ist in einen schwarzen Anzug gekleidet. Sein Kinn ist von einem rötlich schimmernden, buschigen Bart bedeckt. Auf dem Haupt trägt er die traditionelle jüdische Kopfbedeckung Kippa.

Der Rabbi betont, dass die offene Feindseligkeit gegenüber den rund hunderttausend ungarischen Juden erst seit 2006 spürbar sei. Davor sei eigentlich alles in bester Ordnung gewesen: „Ich war schon in vielen Staaten, aber ich habe kein integrationsfreundlicheres Land als Ungarn vor dem Jahr 2006 kennengelernt“, sagt Köves.

Warum 2006? Worauf der Rabbi anspielt, ist die berüchtigte „Lügenrede“ des damaligen sozialistischen Regierungschefs Ferenc Gyurcsány vor seinen Parteikollegen. Sie wurde im Herbst 2006 publik und hat Ungarn in den Grundfesten erschüttert. Gyurcsány gestand damals ein, dass er und die sozialistische Vorgängerregierung die ungarischen Wähler systematisch belogen hätten. Ihre Wiederwahl im Frühjahr 2006 hatten die Sozialisten demzufolge maßgeblich ihrer Unredlichkeit zu verdanken.

Schlag ins Gesicht. Das Lügengeständnis Gyurcsánys wurde von vielen Ungarn als Schlag ins Gesicht aufgefasst. Fortan sprachen viele ungarischen Bürger der Regierung Gyurcsány jegliche Legitimität und Autorität ab. Die renitente Haltung weiter Teile der Gesellschaft schlug sich in wiederkehrenden Demonstrationen und Straßenunruhen nieder.

Der Historiker und Redakteur der jüdischen Monatszeitung „Szombat“, Attila Novák, spricht diesbezüglich gar von einer „Weimarisierung“ des Landes in den Jahren nach 2006. „Angesichts der Schwächung der Staatsmacht verloren viele Menschen das Gefühl, in Sicherheit zu leben“, analysiert Novák. Hinzu kamen die dramatische Talfahrt der ungarischen Wirtschaft und die ausufernde Korruption in der politischen Elite. Novák meint, dass das der ideale Nährboden für die rechtsextremistische Partei Jobbik war, um sich mit primitiven Losungen und Hassparolen gegen „Zigeuner“ und Juden ins Rampenlicht einer aufgewühlten Öffentlichkeit zu katapultieren.

Das Resultat des beispiellosen Vormarschs von Jobbik in der politischen Landschaft Ungarns ist bekannt: Die rechtsextreme Partei erreichte bei den Parlamentswahlen im April auf Anhieb 16,7 Prozent der Wählerstimmen und wurde drittstärkste Kraft im Parlament.

Gefragt nach der Befindlichkeit der jüdischen Gemeinschaft angesichts des großen Wählerzuspruchs für Jobbik, antwortet Novák, dass viele Juden wieder „große Angst“ hätten. „Vor allem ältere Menschen befürchten, dass die demokratischen Institutionen von der radikalen Rechten nun ausgehöhlt werden und das Land auf Zustände zusteuert wie in der Zwischenkriegszeit“, erklärt der Historiker.

Immer mehr Übergriffe. Der Vorsitzende des Verbands jüdischer Glaubensgemeinden in Ungarn (MAZSIHISZ), Péter Feldmájer, bestätigt diese Ängste. Feldmájer sieht in puncto Judenfeindlichkeit eine „äußerst besorgniserregende Tendenz“. Er weist darauf hin, dass die tätlichen Übergriffe auf Juden in den vergangenen Jahren gestiegen seien. Von der Verunstaltung jüdischer Friedhöfe und antisemitischen Beleidigungen auf offener Straße ganz zu schweigen. „Stinkender Jude“ sei da noch eine relativ harmlose Beschimpfung, berichtet Feldmájer.

Dass nun die Partei Jobbik im Parlament sitzt, verschlimmere die Situation nur noch. Es sei nämlich zu befürchten, dass Jobbik den Antisemitismus künftig verstärkt in den öffentlichen Diskurs trage, so Feldmájer.

„Jüdische Weltverschwörung“. In rechtsradikalen Kreisen gilt der Antisemitismus neben der Roma-Feindlichkeit gleichsam als „Eintrittskarte zum Klub“. Damit nicht genug: Das Jobbik nahestehende rechtsradikale Nachrichtenportal „Kurucinfo“ stellt nicht nur den Holocaust offen infrage, es ergeht sich auch mit Vorliebe in Theorien, die eine „jüdische Weltverschwörung“ zum Inhalt haben.

Neben der Rubrik „Zigeunerkriminalität“ kann der User dort auch ein Feld mit dem Titel „Judenkriminalität“ anklicken. Im Wahlkampf zu den Parlamentswahlen im April ging „Kurucinfo“ sogar so weit, den späteren Wahlsieger, den rechtskonservativen Fidesz, als „Zsidesz“ (zsidó = Jude) zu bezeichnen.

Rabbi Köves erzählt, dass vor rund einem Jahr ein junger Jude seiner Herkunft wegen zusammengeschlagen worden sei. Als er bei der Polizei Anzeige gegen unbekannt erstattet habe, hätten ihm die Polizisten nur gesagt, dass er sich freuen solle, nicht noch schlimmer verprügelt worden zu sein. Die Täter seien von der Polizei erst gefasst worden, als er, Köves, und seine Organisation die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den Fall gelenkt hätten. Köves resigniert: „Der Antisemitismus ist eine Krankheit, die niemals aufhört.“

Auf die Frage, wie den starken antisemitischen Tendenzen Einhalt geboten werden könne, gibt der jüdische Verbandsvorsitzende Feldmájer zwei Antworten: „Einerseits muss dem Antisemitismus mit entsprechenden Gesetzen zu Leibe gerückt, andererseits durch eine Sensibilisierung der Kinder in der Schule entgegengewirkt werden.“

Zauberwort Offenheit. Slomó Köves betont, dass der größte Feind der Juden die Unwissenheit sei. Aus diesem Grund müsse die Vermittlung der jüdischen Kultur noch mehr forciert werden. Für Köves heißt das Zauberwort „Offenheit“: „Wir müssen auf die Leute zugehen, damit sie uns kennenlernen“, sagt er. Der Rabbi erzählt, dass seine jüdische Vereinigung beim Budapester Musikfestival „Sziget“ in den vergangenen Jahren mit einem Zelt vertreten gewesen sei. Einmal habe sogar ein Skinhead das Zelt besucht. „Zu unserer Überraschung hat er uns gesagt, dass wir eigentlich coole Typen seien“, schildert Köves.

Die überwiegende Mehrheit der rund 100.000 ungarischen Juden lebt in Budapest. In der Donaumetropole gibt es sogar ein „jüdisches Viertel“, in dem auch die größte Synagoge Europas steht. Während des Zweiten Weltkriegs wurden hauptsächlich Juden aus den ländlichen Regionen des damaligen ungarischen Territoriums ermordet, insgesamt knapp 600.000 Menschen. In Budapest leben heute noch immer rund 10.000 Holocaust-Überlebende.

600.000 ungarische Juden wurden während des Holocaust von den Nazis umgebracht.

100.000 Juden leben heute noch in Ungarn.

95 Prozent der ungarischen Juden leben in Budapest.

1600 jüdische Friedhöfe gibt es über das ganze Land verstreut, viele davon verwahrlost.

20 Synagogen gibt es, in denen jüdische Gottesdienste zelebriert werden. In Budapest befindet sich die größte Europas.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2010)

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