Demografen weisen die Thesen des Bundesbank-Vorstands über die "Verdummung" Deutschlands durch Migranten zurück. Sarrazin muss sich einer Anhörung bei seinem Arbeitgeber stellen.
"Das ist falsch": So kommentierten Wissenschafter bei der in Wien stattfindenden "European Population Conference 2010" am Mittwoch die umstrittenen Theorien des deutschen Bundesbank-Vorstands Thilo Sarrazin. Dieser argumentiert in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" unter anderem, dass sich das schwächere Bildungsniveau vieler Zuwanderer gepaart mit höherer Fertilität negativ auf das Bildungsniveau in Deutschland auswirke.
Der Fehler an Sarrazins Argumentation sei alleine schon der Umstand, dass sich die Fertilität von Migranten innerhalb von wenigen Generationen an das Gastland anpasse. Das erklärte der niederländische Demografen Frans Willekens vom Netherlands Interdisciplinary Demographic Institute (NIDI). Das Klischee der kinderreichen Zuwandererfamilien werde sich damit nicht aufrechterhalten lassen. Außerdem sei es nicht gesagt, dass alle Menschen in jener Bildungsschicht bleiben, in der sie aufgewachsen sind. "Wenngleich das derzeitige Bildungssystem den sozialen Aufstieg nicht gerade förderlich ist", räumte Willekens bei einer Pressekonferenz anlässlich des Demografie-Kongresses ein.
Wolfgang Lutz, Direktor des Instituts für Demografie der Akademie der Wissenschaften (ÖAW), verwies auf den Umstand, dass in den 1960er und 1970er etwa durch Österreich bewusst Einwanderer aus niederen Bildungsschichten ihrer Heimatländer angeworben wurden. Dabei könnte dieses Manko der mangelnden Bildung sehr rasch behoben werden, es bedürfe dafür allerdings eines massiven Investments in die Förderung der zweiten und dritten Generation der Zuwanderer.
Krisensitzung bei der Bundesbank
Sarrazin muss sich indes einer Anhörung durch die Spitze der Bank stellen. Auch der Ethik-Beauftragte der deutschen Zentralbank werde zu Rate gezogen. Eine Entscheidung über die berufliche Zukunft von Sarrazin dürfte aber frühestens am Donnerstag fallen, wie ein Sprecher am Mittwochnachmittag sagte.
Der frühere Berliner SPD-Finanzsenator Sarrazin steht seit Tagen wegen seiner Thesen zur Integrationsfähigkeit von Muslimen und Äußerungen zur angeblichen genetischen Disposition bestimmter Volksgruppen in der Kritik. Der SPD-Parteivorstand hat deshalb ein Parteiausschluss-Verfahren gegen ihn eingeleitet. Die Bundesbank distanzierte sich von seinen Äußerungen, verzichtete bisher aber auf einen Antrag auf Entlassung, weil sie ihn erst anhören wollte. Nach Einschätzung von Arbeitsrechtsexperten reichen die umstrittenen Äußerungen von Sarrazin aber womöglich nicht aus, um ihn rauszuwerfen.
Droh-Mails: Literaturhaus sagt Lesung ab
Nach Droh-Mails musste auch die geplante Lesung von Sarrazin am 29. September im Münchner Literaturhaus abgesagt werden. Sie wird durch eine Diskussionsveranstaltung ersetzt, an der wahrscheinlich Einwanderungsexperten, Biologen und Genforscher teilnehmen werden.
"Als wir die Veranstaltung geplant haben, war noch nicht viel über das Buch von Herrn Sarrazin bekannt", sagte die Sprecherin über die abgeblasene Lesung. "Wir hatten ein wirtschaftspolitisches Buch erwartet. Seit aber viel mehr davon zu lesen ist, wissen wir, dass man darüber mehr diskutieren muss."
Auch Start der Lesereise abgeblasen
Man wolle Sarrazin weder an den Pranger stellen noch ihm ein Forum geben für seine zweifelhaften Thesen, aus denen man rassistische Tendenzen herauslesen kann, erklärte die Sprecherin.
Auch der Start von Sarrazins Lesereise am Donnerstag in Hildesheim wurde nach Proteten wegen Sicherheitsbedenken abgesagt.
(Ag.)