Die Kehrseite des „American Dream“

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Kehrseite bdquoAmerican Dreamldquo(c) AP
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Die Wirtschaftskrise stürzt jeden siebten Amerikaner in Armut. Jedes fünfte Kind ist davon betroffen, am wenigsten trifft es Weiße und Asiatischstämmige. Private Hilfe lindert Not.

washington. Unweit des herausgeputzten Universitätsstädtchens Athens mit den getrimmten Rasenflächen und Sportanlagen auf dem Campus schmiegt sich das Dorf Lottridge im Südosten Ohios, hart an der Grenze zu West Virginia, in die Hügellandschaft der Appalachen. In den Vorgärten und Hinterhöfen offenbart sich die Kehrseite des „American Dream“. Viele Menschen leben in Trailern – besseren Wohncontainern – und abbruchreifen Holzhäusern, umgeben von Gerümpel und Autowracks, in denen sie das Notwendigste verstaut haben.

Weil sie die Not ihrer Nachbarn nicht länger mitansehen konnte, hat Lisa Roberts vor 13 Jahren mit Spendengeldern eine Armenküche gegründet. Geboren aus einem Notfall, ist die Küche inzwischen zu einem fixen Bestandteil des sozialen Lebens in Lottridge geworden, zur Anlaufstelle für die wachsende Zahl der Hilfsbedürftigen.

Gelobtes Land

„Es hat sich verschlimmert“, resümiert Roberts. „Bevor sie zu uns kommen, klappern sie ihre Kirchen und Familien um Hilfe ab. Die Leute kämpfen darum, ihre Rechnungen zu bezahlen, ihre Medikamente zu kaufen. Sie leben von Scheck zu Scheck.“ Eine 87-jährige Frau fühlt sich in die Zeit der „Großen Depression“ in den 1930er-Jahren zurückversetzt. Lisa Roberts erinnert sich: „Ich bin in dem Bewusstsein aufgewachsen, in einem ,Gelobten Land‘ zu leben.“ Selbst heute noch kommt Politikern und überzeugten Patrioten wie Präsident Barack Obama das Bekenntnis von den USA als „reichstem Land der Erde“ – zuletzt bei seiner TV-Rede an die Nation – flüssig über die Lippen.

Die Realität spricht indes eine andere Sprache: Warteschlangen von Obdachlosen vor Kirchen und karitativen Einrichtungen, die sich in den Metropolen der Ost- und Westküste bis um den nächsten Block ziehen; Menschen, die in den Supermärkten mit staatlichen Essenscoupons zahlen; Arbeitslose, die vorübergehend in den Wohnzimmern von Familienangehörigen und Freunden Unterschlupf gefunden haben; viele, die sich mit zwei Jobs durchs Leben schlagen, um ihre Familien durchzubringen – als Nachtwächter oder als Rezeptionist.

Jetzt haben es die Amerikaner schwarz auf weiß: 14,3 Prozent der US-Bürger leben unter der festgeschriebenen Armutsgrenze von 10.830 Dollar (und 21.954 Dollar für eine vierköpfige Familie) im Jahr. Jedes fünfte Kind ist davon betroffen, am wenigsten trifft es Weiße und Asiatischstämmige. Es ist der höchste Anteil an Armen in den USA seit 1994 – und mit 43,6 Millionen der höchste in absoluten Zahlen. Und es ist eine neuerliche Hiobsbotschaft für die Obama-Regierung und die Demokraten vor den Kongresswahlen.

Diese Statistik weist eine Erhebung für das Vorjahr aus, die das Büro für Volkszählung soeben vorgelegt hat. Experten für Armutsforschung wie Timothy Smeeding haben sogar befürchtet, dass die Rezession noch größere Kreise gezogen hätte. Für heuer erwarten sie einen weiteren Anstieg. Die Misere, so die Meinung, wäre allerdings noch schlimmer ohne die staatlichen Programme, die die ärgste Not lindern – etwa für die Opfer von Zwangsversteigerungen und des jahrelang grassierenden Hypotheken-Hypes.

50 Millionen ohne Versicherung

Ein Nebeneffekt der Wirtschaftskrise und der offiziellen Arbeitslosenrate von derzeit 9,6 Prozent – die inoffizielle liegt bei 15 Prozent– ist, dass im Vorjahr vier Millionen Amerikaner ihre Krankenversicherung verloren haben. Die Zahl der Versicherungslosen summiert sich auf mehr als 50 Millionen Menschen – 16 Prozent der Bevölkerung. Die Gesundheitsreform, die nun sukzessive in Kraft tritt, soll zwei Dritteln von ihnen einen Versicherungsschutz verschaffen. Währenddessen gehen die Versicherungen jedoch bereits daran, ihre Prämien zu erhöhen.

In Lottridge bangen die Leute derweil vor einem kalten Winter.

AUF EINEN BLICK

Armutsbericht.
Die Rezession hat die Mittelklasse und die unteren Einkommensschichten besonders schwer getroffen. Für das Jahr 2009 weist das Büro für Volkszählung einen Anteil von 14,3 Prozent US-Amerikanern aus, die unterhalb der festgeschriebenen Armutsgrenze von 10.830 Dollar leben – der höchste Prozentsatz seit 1994. Noch stärker betroffen als der Durchschnitt sind Kinder (20 Prozent), Schwarze und Hispanics (je 25 Prozent). Experten gehen davon aus, dass die Armut in den USA heuer noch weiter anwachsen wird. Mit staatlichen Hilfsprogrammen wie Essensmarken und Billigkrediten versucht die Regierung, die Not zu lindern. Zudem sind 51 Millionen Amerikaner ohne Krankenversicherung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2010)

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