Ukraine: "Keine Rückkehr in die alten Zeiten"

Wolodymyr Lytwyn
Wolodymyr Lytwyn(c) Presse (Michaela Bruckberger)
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Der ukrainische Parlamentspräsident Wolodymyr Lytwyn im "Presse"-Interview über Grimassen der Demokratie, den Individualismus seiner Landsleute und die Ernüchterung in seinem Land über die EU.

Die Presse: Lebt man als ukrainischer Parlamentspräsident eigentlich gefährlicher als Parlamentspräsidenten in anderen Ländern? Ich erinnere an TV-Bilder aus dem Parlament in Kiew: Eierwürfe, Rauchbomben, wüste Keilereien.

Wolodymyr Lytwyn: Bei uns sagt man: Wenn Du Dich vor zu großer Hitze fürchtest, solltest Du Dich vom Ofen fernhalten. Die Bilder, die Sie erwähnt haben, sind die Grimassen der Demokratie. Jedes Parlament der Welt hat solche Etappen durchgemacht. Es liegt aber auf der Hand, dass wir den Abgeordneten das Verständnis für die Kultur des politischen Dialogs beibringen müssen. Wir müssen auch lernen, dass die Mehrheit und die Minderheit im Parlament ein gepflegtes Nebeneinander entwickeln sollten.

Staatschef Viktor Janukowitsch hat angekündigt, die Verfassung abändern zu lassen, um dem Präsidentenamt wieder mehr Kompetenzen zu geben. Wird das Parlament das so ohne weiteres hinnehmen?

Lytwyn: Der Staatspräsident hat bisher noch nie erklärt, dass die Ausweitung seiner Kompetenzen auf Kosten des Parlamentes gehen soll. Ich bin mit ihm einverstanden, wenn er argumentiert, dass die Ukraine ein starkes Präsidentenamt, ein starkes, leistungsfähiges Parlament und auch eine starke Regierung braucht. Unter stark verstehe ich verantwortungsbewusst und auch demokratisch.

Die Opposition freilich erachtet im Vorhaben des Präsidenten einen Angriff auf die Demokratie und den Parlamentarismus.

Lytwyn: Das sehe ich nicht so. Denn die ukrainische Staatsmacht wird sich bei ihrem Vorgehen an zivilisierte politische Rahmen und Verfahren halten. Und was die Frage der Kompetenzabgrenzung anbetrifft: Ich bin ein Anhänger des Teamworks und der gemeinsamen politischen Verantwortung.

Präsident Janukowitsch argumentiert, er brauche mehr Kompetenzen, um unpopuläre Reformen durchsetzen zu können. Welche meint er denn?

Lytwyn: Unpopuläre Maßnahmen hat nicht der Staatspräsident einzuleiten und umzusetzen, sonder die Steuerung der wirtschaftlichen Prozesse obliegt der Regierung. Es geht um Maßnahmen, die eingeleitet werden müssen, damit die Ukraine nicht hinter den Entwicklungprozessen in Europa zurückbleibt, sondern mit diesen Schritt halten kann.

Außerdem: Mit erweiterten Kompetenzen allein wird man die Menschen nicht dazu bringen, der Politik mehr Akzeptanz entgegenzubringen. In der heutigen Zeit ist es nicht mehr möglich, Reformen sozusagen per Knopfdruck zu verordnen. Reformen von oben sind ein Merkmal, das dem Staat von gestern anhaftet. Reformen müssen von unten initiiert und vorangetrieben werden.

Erwächst aus erweiterten Kompetenzen für den Präsidenten nicht eine Gefahr, dass das ukrainische Herrschaftsmodell sich wieder mehr dem russischen angleicht: ein machtvolles Präsidialsystem, während das Parlament nicht viel zu reden hat?

Lytwyn: Ich will nicht leugnen, dass es auch bei uns der Opposition nahestehende Experten gibt, die behaupten, die Ukraine tendiere hin zum russischen Herrschaftsmodell. Aber wir haben in der Vergangenheit eine ausreichend starke Impfung verpasst bekommen, und es ist schlicht unmöglich, dass die ukrainische Gesellschaft vom eingeschlagenen Weg wieder abweicht. Ich möchte auch betonen, dass in der Ukraine der Individualismus viel stärker ausgeprägt ist als in der russischen Gesellschaft. Manchmal schlägt dieser Individualismus leider sogar in Anarchismus um.

Dennoch: Ist die Ukraine immun gegen die Versuchungen des Autoritarismus?

Lytwyn: Ich habe einerseits volles Verständnis dafür, dass die ukrainische Gesellschaft sich wünscht, dass Ordnung im Land herrscht. Aber ich glaube nicht, dass gewisse Ambitionen der Machtelite auf den Aufbau des Autoritarismus, geschweige denn Formen eines diktatorischen Herrschaftssystems hinauslaufen werden. Das würde in der Gesellschaft nicht akzeptiert werden.

Es gab zuletzt aber gehäufte Kritik innerhalb und außerhalb der Ukraine, dass selbst die wenigen Errungenschaften, die von der orangen Revolution geblieben sind - etwa Presse- und Versammlungsfreiheit - von der jetzigen Führung minimalisiert würden.

Lytwyn: Das ist unmöglich. Das würde bedeuten, dass wir die Ukraine in den Ruin getrieben haben. Unser Land erlebt gerade eine Übergangsperiode, theoretisch sind Rückfälle in die Vergangenheit nicht auszuschließen. Aber ich sehe keine Gefahr einer Rückkehr in alte Zeiten.
Dazu kommt das Problem, dass manche Leute sich nur schwer von der Macht trennen können. Im Unterschied zu europäischen Ländern gehen bei uns die Machtkämpfe tiefer. Es geht nicht nur um politische Macht und Einflussnahme, es geht auch um Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen, es handelt sich um Verteilungskämpfe. Wenn man Gefahr läuft, diesen Zugang zu verlieren, löst man Alarm aus. Gleichzeitig meine ich, dass die Ukraine heute eine effektive Opposition braucht, die der Regierung auf die Finger schaut.

Hat Ihrer Meinung nach die ukrainische Außenpolitik zuletzt wieder eine pro-russische Schlagseite bekommen?

Lytwyn: Die Beobachtung, dass in der ukrainischen Außenpolitik die pro-russische Orientierung wieder stärker wird, ist auf den ersten Blick durchaus begründet. Aber nachdem die ukrainisch-russischen Beziehungen längere Zeit stark unterkühlt waren, erscheint manchen eben die Normalisierung des Verhältnisses zu Moskau als Einschwenken auf einen pro-russischen Kurs. Unsere Außenpolitik lässt sich jedoch von pragmatischen Grundsätzen leiten. Es wird keine rituellen Beschwörungen über die ewig währende Freundschaft beider Völker geben. Wichtig ist, dass die ukrainisch-russischen Beziehungen normal, zum beiderseitigen Nutzen und dass sie berechenbar sind.

Fühlt sich die Ukraine von der EU eigentlich vernachlässigt?

Lytwyn: Dieses Gefühl ist bei uns tatsächlich stark verbreitet. Aber den Ursprung des Problems sehen wir bei uns selbst. Vor allem sollten wir bei unseren Auftritten im Ausland mit einer Stimme sprechen, und damit aufhören, uns dort über das eigene Land zu beklagen. Selbstverständlich hoffen wir aber auch, dass die EU ihren Egoismus einmal überwindet und Verständnis für die ukrainischen Belange zeigt. Dabei ist uns klar, dass wir selbst noch ein großes Pensum an Hausaufgaben zu erledigen haben. Doch wir zählen darauf, dass die EU sich zu der Erkenntnis durchringen wird, dass im Ukraine-EU-Abkommen die Beitrittsperspektive für die Ukraine als Schlüsselsatz fixiert wird.

Ist die Kluft zwischen pro-russischer Ost- und Westukraine Seite zuletzt wieder größer geworden?

Lytwyn: Diese Kluft hat sich historisch herausgebildet. Doch das sollte man nicht von vornherein negativ sehen. Bei einer klugen Politik könnte diese Trennung sogar zum Vorteil werden, wenn nämlich die unterschiedlichen historischen Erfahrungen in den beiden Landesteilen, die unterschiedlichen Weltanschauungen, ja sogar die unterschiedlichen Konfessionen verschmelzen würden. Das könnte im Ergebnis äußerst fruchtbar sein. Denn an Nahtstellen entsteht oftmals etwas Neues, Kreatives. Genau davon versuche ich die ukrainische Politik unermüdlich zu überzeugen. Wir sollten alle aus den historischen Erfahrungen aller ukrainischen Regionen lernen.

Ich bin auch zutiefst überzeugt, dass in der Ukraine das historische europäische Wertesystem Vorrang hat. Diesem Wertesystem, zum dem sich die Ukraine bekennt, gehört die Zukunft.

ZUR PERSON

Wolodymyr Lytwyn (*28.4.1956) ist Absolvent des Historischen Instituts der Kiewer Schewtschenko Universität. Einst Mitarbeiter im ZK der ukrainischen KP, wurde er 1994 Assistent von Präsident Leonid Kutschma, ab 1999 leitete er das Präsidialamt. Von 2002 bis 2006 war er ukrainischer Parlamentspräsident, diesen Posten hat er seit Dezember 2009 erneut inne. „Die Presse“ sprach mit ihm anlässlich des Besuchs einer ukrainischen Parlamentarierdelegation in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.09.2010)

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