Integrationsdebatte: "Baba schlägt dann halt oft zu"

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Heinz Buschkowsky, Bürgermeister des Berliner „Problembezirks“ Neukölln, fühlt sich durch die aktuelle Integrationsdebatte um 20 Jahre zurückversetzt, erzählt er im Gespräch mit der "Presse".

Berlin. Heinz Buschkowsky ist seit knapp zehn Jahren Bürgermeister des einstigen Berliner Arbeiterbezirks Neukölln: 40 Prozent Zuwanderer, bis zu 95 Prozent Schulanfänger mit Migrationshintergrund, die Hälfte der Bewohner bezieht Hartz IV. Buschkowsky kennt die Probleme und spricht sie seit Jahren schonungslos an.

Die Presse: Nützt die Debatte, die Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ ausgelöst hat, der Integration?

Heinz Buschkowsky: Die Debatte, wie sie im Moment geführt wird, hilft niemandem, schon gar nicht der Integration. Ich fühle mich um 20 Jahre zurückversetzt: Urplötzlich befinden wir uns wieder in einem Stellungskrieg. Die Schlagtot-Argumente beherrschen das Feld und ersticken eine sachliche Debatte. Auf der einen Seite ist jeder Satz der Kritik sofort Rassismus. Auf der anderen Seite werden die Stammtische willig bedient. Um „Multikulti“ als gescheitert zu bezeichnen, müsste man erst einmal das Konzept definieren.

Wie würden Sie das tun?

Multikulti war die sozialromantische Vorstellung, Integration sei eine bunte Rutschbahn ins Glück der Gesellschaft. Aber Integration ist harte Arbeit: Für die aufnehmende Gesellschaft, die mit Menschen konfrontiert wird, die anders sind und anders leben als gewohnt. Und für den Migranten, der Sprache, Sitten und Gebräuche einer anderen Kultur lernen muss. Nichts läuft mehr wie im Dorf. Der Mensch sucht meist wie das Wasser den leichtesten Weg. Wenn er Anstrengung vermeiden kann, tut er das. Der eine ignoriert die Neuankömmlinge einfach, der andere bildet eine Parallelgesellschaft.

Welche Folgen hat diese Entwicklung, zum Beispiel in Ihrem Bezirk Neukölln?

Das Ergebnis sind Stadtteile, die geprägt sind von der Welt der Zuwanderer und – damit häufig einhergehend – von Bildungsferne. Es gibt viele Neuköllns in Deutschland. In den Schulen Nord Neuköllns haben 85 bis 95 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund. Die Hälfte von ihnen weist erhebliche Sprachmängel auf. Bei uns kann ein Teil der Kinder bei der Einschulung keine Schere halten, sie wissen nicht, was Buntpapier ist. Der Lernfortschritt ist dann um bis zwei Jahre verzögert.

Wo sehen Sie die Gründe dafür?

Dort, wo das soziale Umfeld nicht von Vorlesen, Spielen und Gesprächen, sondern von Straße und Fernseher geprägt wird, können Sie nicht erwarten, dass die Kinder mit sechs Jahren einen altersgerechten Sprachschatz haben. Sie werden zu Hause weder gefördert noch gefordert. In Nord Neukölln entscheidet nur der Straßenzug, ob zwei Drittel oder drei Viertel der Kinder Hartz IV beziehen. Wo die Eltern keiner geregelten Arbeit nachgehen, keine Erfolgsgeschichten berichtet werden und Vorbildfiguren fehlen, können Kinder soziale Kompetenzen nicht aufbauen. Ihnen fehlen zwangsläufig Ansporn und Ehrgeiz. Das Geld kommt doch vom Amt – sie kennen es nicht anders.

Ihre Beschreibung gilt für alle sozial Schwachen. Wieso verbinden Sie es speziell mit der Integration der Zuwanderer?

Die Probleme sind symptomatisch für Bildungsferne, also Unterschichtmilieus, mit und ohne Migrationshintergrund. Die deutschen Kinder hängen auch vor dem Fernseher und schauen Boulevard-Programme. Bei vielen Migranten kommt verschlimmernd hinzu, dass in der „Heimatsprache“ ferngesehen wird. Archaische Familienriten, tradierte Rollenmuster und starke Frömmigkeit prägen oft den Alltag.

Inwiefern?

Mädchen werden erzogen, rein, keusch und gehorsam zu sein. Jungen sind mutig, tapfer und als Beschützer stets kampfbereit. Wenn Baba nicht mehr weiter weiß, schlägt er halt oft zu. Natürlich gibt es häusliche Gewalt auch in deutschen Familien, aber das Verhältnis ist 1:4.

Unsere Lehrer und Erzieher haben jeden Tag Stress mit fundamentalistischen Eltern, die ständig versuchen, die Religion in die Schule und in den Kindergarten zu tragen. Da geht es um den Biologie-, Sport- oder Schwimmunterricht, die Teilnahme an Klassenfahrten, das Duschen nach dem Sport oder das Tragen von Kopftüchern im Kindergarten sowie im Ramadan fastende Kinder.

Wie hoch ist der Anteil solcher „fundamentalistischer“ Eltern?

Rund 20 bis 30 Prozent insbesondere der muslimischen Migranten befinden sich nach meinem Gefühl in Distanz zu unserer Gesellschaft, zu der Art wie wir leben. Die Hälfte davon halte ich für Hardcore-Familien, die kein Interesse daran haben, sich zu integrieren. „Halte dich von den Deutschen fern“, sagen sie ihren Kindern. In Neukölln flüchten liberal-islamische Familien vor ihren Landsleuten aus dem Bezirk. Sie sind es leid, sich verteidigen zu müssen, weil ihre Tochter kein Kopftuch trägt. Junge Deutsche ziehen zu uns, weil hier die Mieten niedrig sind. Sie schicken ihre Kinder in elitäre Kinderläden, ziehen bei Schulbeginn aber weg, weil ihre Kinder keine Integrationspioniere sein sollen. Gerade Vorbilder verlassen trotz aller Bemühungen das Quartier.

In Neukölln tun Sie ja viel dagegen.

Wir versuchen, der Entwicklung entgegenzuwirken. Denn hier liegt ja das Humankapital einer Gesellschaft, die auf die demografische Katastrophe zusteuert. Wir haben 200 Migrantinnen zu „Stadtteilmüttern“ ausgebildet, die wir in abgeschottete Familien schicken. Da geht es um gewaltfreie Erziehung, gesunde Ernährung, Kindergarten, Sexualerziehung.

Neukölln ist der größte Anbieter von Deutschkursen, wir veranstalten für alle Grundschulkinder eine Woche pro Jahr einen Mitmachzirkus, haben das erste Ganztagsgymnasium Berlins gegründet und Schulstationen an den Grundschulen eingerichtet. Wir machen viel, aber die ganze Projekteritis löst das Kernproblem der Bildungsferne nicht. Wir brauchen eine andere Bildungspolitik.

Muss man von Migranten mehr verlangen?

Laisser-faire ist kein Erfolgsrezept. In Ruhe lassen ist keine Integrationspolitik sondern Feigheit, und Political Correctness das Alibi für Ignoranz. Klare Regeln geben auch Orientierung. Eine Gesellschaft muss das Selbstbewusstsein haben, ihre Werte offensiv zu vertreten und durchzusetzen. „Kommt das Kind nicht in die Schule, kommt das Kindergeld nicht auf das Konto“, versteht jeder genauso wie „keine Leistung ohne Gegenleistung“.

Zur Person

Heinz Buschkowsky wurde 1948 in Neukölln geboren und ist dort aufgewachsen. Sein Vater war Schlosser, seine Mutter Sekretärin.

1973 trat er der SPD bei. Der ausgebildete Diplomverwaltungswirt arbeitete zunächst in mehreren Senatsbehörden.

Seit 2001 ist er Bürgermeister von Neukölln. 2004 wurde er mit der These bekannt, dass „Multikulti gescheitert“ sei. Dieselbe Diagnose stellte kürzlich Kanzlerin Merkel. Für Buschkowsky macht es aber einen Unterschied, ob das ein „Dorfschulze“ sagt oder die Kanzlerin. Vor allem müssten aus der Feststellung Schlüsse gezogen werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2010)

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