Brasilien: "Dilma wird Wagen nicht in Graben fahren"

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Das nach Bevölkerung und Fläche fünftgrößte Land wird seit Neujahr erstmals von einer Frau geführt. Dilma Rousseff wurde dank der wortreichen Unterstützung ihres Vorgängers Lula da Silva nach oben getragen.

Hoffentlich war das kein böses Omen. Just an jenem Tag, auf den Dilma Rousseff mindestens zwei Jahre hingearbeitet hatte, während derer sie ein Krebsleiden niederringen, einen Wahlkampf bestreiten und zwei Wahlgänge durchstehen musste, just an dem Tage also öffneten sich die tropischen Wolken über Brasilia. Der ehrwürdige 1952er Rolls-Royce „Silver Wraith“, in dem Brasiliens Präsidenten seit mehr als 50 Jahren zur Angelobung ins Parlament kutschiert werden, musste das Capot schließen. Rousseff und ihre Tochter Paula winkten aus den kleinen Seitenfenstern jenen Bürgern zu, die sich das Spektakel nicht von den herabstürzenden Fluten vermiesen ließen.

Am Ziel ihrer ersten Dienstfahrt angekommen, schwor die 63-Jährige Ökonomin, dass sie ihr Amt bis Dezember 2014 ausüben werde. Und setzte sich zum Ziel, eine „Gewinnernation zu führen, die jene Erfolge erzielen kann, die sie sich stets vorgenommen hat“.

Das Land des Augenblicks

Die neue Präsidentin des Riesenlandes meinte damit gewiss nicht nur den Titel bei der nächsten Fußball-WM im eigenen Land, die in ihre Amtszeit fällt. Sie bezog sich auf den formidablen Aufstieg, den ihr Land in den letzten 15Jahren vollzogen hatte. Nun ist Brasilien endlich das Land des Augenblicks, nachdem es fünf Jahrzehnte nicht über Stefan Zweigs Versprechen herausgekommen war, „das Land der Zukunft“ zu sein.

Rousseff, Tochter eines bulgarischen Anwalts, einst Guerillera und Gefangene der Diktatur, später Finanzdezernentin und Energieministerin, ist angetreten, den Weg ihres überaus erfolgreichen Vorgängers und Ziehvaters Luiz Inácio Lula da Silva fortzuführen, der 20 Millionen Brasilianer aus der Armut in die Mittelklasse hievte: „Ich werde nicht ruhen, solange es in Brasilien Menschen gibt, die kein Essen auf dem Tisch haben, und Kinder, die ihrem eigenen Schicksal überlassen werden“, sagte Rousseff.

Wiederannäherung an die USA

Auch wenn Rousseff den Kurs ihres mit sagenhaften 87Prozent Zustimmung aus dem Amt geschiedenen Übervaters nicht ändern will, wird sie einige Stellschrauben im Land bewegen müssen, um die Folgen des Lula-Booms in den Griff zu bekommen. Der bescherte Brasilien im abgelaufenen Jahr fast neun Prozent Wachstum, aber auch eine völlig überbewertete Währung und wachsende Inflation. Bereits vor ihrer Amtsübernahme hat Rousseff signalisiert, dass sie die Staatsausgaben senken werde, die im Wahljahr 2010 immer noch so flossen wie 2009, als Lula mit öffentlichen Geldhähnen die Brände wegen der Weltfinanzkrise löschte.

Zur Amtseinführung der nun mächtigsten Frau Lateinamerikas war übrigens auch die mächtigste Frau des ganzen Kontinents angereist: US-Außenministerin Hillary Clintons Anwesenheit in Brasilia wird in Südamerika als Signal dafür gewertet, dass Brasilien außenpolitisch wieder näher an die USA rücken werde. Lula hatte vor allem in seinen letzten Amtsjahren mit seinem Verständnis für die nuklearen Ambitionen des Irans Regierungen in Europa und vor allem Washington brüskiert. Doch seit dem Neujahrstag leitet Antonio Patriota das Außenamt: ein Karrierediplomat, der Botschafter in Washington war und als Kenner der USA gilt. Von ihm erhoffen sich die USA weniger internationale Profilierungsversuche wie den gescheiterten türkisch-brasilianischen Vermittlungsvorstoß im Streit um Irans Atomprogramm von 2010.

Desolate Infrastruktur

Im Land gibt es ohnehin genug zu tun. Einerseits muss der grüne Koloss dringend seine Infrastruktur verbessern, um im globalen Wettbewerb mithalten zu können. Zusätzlich stehen die Großereignisse Fußball-WM 2014 und Olympia 2016 ins Haus. Dreieinhalb Jahre vor Anpfiff sind Straßen, Flug- und Seehäfen hoffnungslos überlastet, vor allem im Luftverkehr droht der Kollaps. Andererseits taugen weder das Gesundheits- noch das Bildungssystem für ein Land, das bald zu den fünf größten Volkswirtschaften der Welt gehören will.

Neu sind diese Defizite keineswegs. Bereits in der Ära Lula fanden viele aufstrebende Unternehmen kaum ausreichend qualifiziertes Personal. Aber Reformen sind hart zu realisieren in Brasiliens trägem politischen System.

Dilma Rousseff, die sich in ihrer bisherigen Funktion als Lulas Kabinettschefin als fleißig, kompetent und effizient ausgezeichnet hat, muss rasch neue Qualitäten beweisen. Um parlamentarische Mehrheiten für ihre Pläne zu gewinnen, muss sie lernen, zu verhandeln.

Vor allem die Abgeordneten der großen Zentrumspartei PMDB, auf die sie angewiesen ist, haben sich bisher durch wenig ideologische, aber umso größere persönliche Ansprüche ausgezeichnet.Lula gelang es, auch unter diesen widrigen Umständen seinen Kurs zu fahren – doch war auch dessen in langen Gewerkschaftsjahren antrainiertes Verhandlungsgeschick legendär.

Das Vertrauen des Ziehvaters

Lula, der seinen Abschied bis zum letzten Tag öffentlich tränenreich zelebriert hatte, versicherte seinem Volk sein Vertrauen in die Auserwählte. Bei der Eröffnung eines Autowerks sagte er jüngst: „Dilma wird den Wagen nicht in den Graben fahren“; auch, wenn es in Strömen gießen sollte, wie auf der Fahrt zur Amtseinführung. Danach hörte übrigens der Regen auf, und Brasiliens neue Präsidentin durfte im offenen Rolls-Royce ihrer neuen, großen Aufgabe entgegenfahren. Leitartikel Seite 2

Lexikon

Brasilien hat etwa 191 Millionen Einwohner und ist mit 8,5 Millionen Quadratkilometern das fünftgrößte Land der Welt. In den nächsten paar Jahren dürfte es auch wirtschaftlich in die Top fünf kommen, seit einem Jahrzehnt wächst das früher krisen- und armutsgeplagte Land enorm. Rohstoffe, vor allem Öl und Metalle, und eine wachsende Anzahl von Großkonzernen sind neben Staatsinvestitionen und Sozialprogrammen maßgeblich für den Boom. Auch politisch-militärisch generiert sich das Land, das eine merkliche Aufrüstung betreibt, als neue Großmacht.



>> Leitartikel: Der Aufstieg des netten amerikanischen Riesen

("Die Presse", Print-Ausgabe, 3. Jänner 2011)

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