Terrorismus: „Mohammed Atta kämpfte mit der Depression“

Terrorismus: „Mohammed Atta kämpfte mit der Depression“
Terrorismus: „Mohammed Atta kämpfte mit der Depression“(c) AP (Martin Cleaver)
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Religiöse Fanatiker – oder Lebensmüde? Vielen Selbstmordattentätern gehe es in erster Linie darum, sich das Leben zu nehmen, behauptet US-Forscher Adam Lankford. Er analysiert auch den 9/11-Piloten.

War der Mann, der am 11.September 2001 ein Flugzeug in den Nordturm des World Trade Center lenkte, krankhaft depressiv? „Wenn ich ihm ,Auf Wiedersehen‘ sagte, war ich traurig“, sagte ein Freund über Mohammed Atta. Mitbewohner erinnern sich an den ägyptischen Studenten, wie er am Tisch sitzt und seufzt: „Das ist langweilig. Essen ist langweilig.“ Er habe keine Karriere vorweisen können, sei in Deutschland sozial isoliert gewesen, ohne Familie, ohne Frau, das alles habe ihn niedergedrückt, erzählte ein Freund nach Attas Tod. Es sei nicht leicht, mit 24 als Muslim noch keine Frau zu haben, sagte er einmal – mit 33 hatte er immer noch keine.

Atta war nicht freiwillig in Deutschland. Sein ehrgeiziger Vater hatte ihn gezwungen, im Westen einen Abschluss zu machen. Sieben Jahre brauchte er dafür, dann flehte er seine Mutter an: Er sei müde, er wolle nach Hause. Aber der Vater verlangte, dass der Sohn noch in Amerika ein Doktorat macht. Wenige Monate später war Mohammed Atta in Afghanistan, traf Osama bin Laden und sagte ihm, er sei nun bereit zu sterben.

Ein in die Depression getriebener „Loser“ – ist das der Mann, den Extremisten als siegreiche Galionsfigur feiern, der Mann, der die bislang schrecklichste Form islamischen Selbstmordterrorismus verkörpert?

Fanatische, aber rationale Akteure?

Mohammed Atta ist tot – aber Wissenschaftler ringen immer noch um seine Seele. Sie wollen wissen, was in ihm vorging, bevor er zum Massen- und Selbstmörder wurde, in ihm und anderen Suizidattentätern. „Wahnsinnige“ nannte der Westen diese im ersten Schock nach dem Zusammensturz der Zwillingstürme. Bald aber änderte sich das Bild. Die Attentäter seien in der Regel fanatische, aber rationale Akteure, so lautet bis heute der Tenor der Forscher. Vor allem der Hass auf den Westen treibe sie an und die Hoffnung auf Ruhm und das Paradies.

Eine Handvoll Forscher will sich damit nicht begnügen – allen voran Adam Lankford vom Institute of Criminal Justice der University of Alabama. „Es scheint, als wären wir in unserem ersten Vorpreschen, die Motive der Selbstmordterroristen zu erklären, fast völlig falsch gelegen“, erklärt er in einer noch unveröffentlichten Studie über Mohammed Atta, die der „Presse“ vorliegt. Vieles würde darauf hindeuten, dass Atta „ähnlich mit sozialer Isolation, Depression, Schuld und Scham, Hoffnungslosigkeit kämpfte wie jene, die gewöhnlichen Selbstmord begehen“.

Zehn Jahre nach 9/11 dürften Lankfords Forschungen bald für Diskussionen sorgen: Er hat mehrere Studien vorbereitet, im Frühjahr wird er u.a. eine Liste von 75 Selbstmordattentätern veröffentlichen, die seiner Überzeugung nach eines gemeinsam haben: Sie waren in klinischem Sinn suizidgefährdet. Darunter die Palästinenserin Wafa al-Biss. 2005 wurde die 21-Jährige mit zehn Kilo in ihrer Unterwäsche eingenähtem Sprengstoff aufgegriffen, die sie in einem israelischen Spital zünden wollte. Eben dort war sie ein Jahr zuvor behandelt worden, nachdem sie versucht hatte, sich in der elterlichen Küche anzuzünden. 2005 machte sich auch der afghanische Student Qari Sami zu einem Selbstmordanschlag auf. Mit einer Bombe an der Hüfte betrat er ein Internet-Café in Kabul – blieb aber nicht stehen, sondern ging weiter in die Toilette, verschloss die Tür und sprengte sich dann erst einsam in die Luft.

Von ungewollten Schwangerschaften oder verhinderten Heiraten ist in der Studie die Rede, von der Scham durch eine HIV-Ansteckung, vom Gefühl, dass das eigene Leben „nichts wert“ sei, vom Tod naher Verwandter. Oder auch von Terroristen-Anwerbern, die zugeben, bewusst nach „traurigen Typen“ Ausschau zu halten. Warum, fragt Lankford, schafft es jeder zweite Taliban-Selbstmordterrorist nur, sich selbst zu töten? Sind diese Männer wirklich so ungeschickt – oder geht es vielen von ihnen vor allem darum, ihr wichtigstes Ziel zu verwirklichen, nämlich den Selbstmord?

Selbstmord ist im Islam schwere Sünde

Lankfords Theorie ist brisant, weil sie an ein Tabu der muslimischen Welt rührt: den Selbstmord. Er zählt im Islam zu den schwersten Sünden. „Bedenkt man die Macht, die das Stigma Selbstmord haben könnte, um künftige Selbstmordterroristen abzuschrecken, ist es entscheidend, dass Regierungen, Wissenschaftler und Praktiker dieses Thema neu aufrollen“, so Lankford.

Dafür müsste er aber zuallererst seine Kollegen überzeugen. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Robert Pape etwa analysierte für sein Buch „Dying to Win“ (2005) alle bekannten Selbstmordanschläge seit 1980. Er kam zu dem Schluss, dass Selbstmordattentäter im Allgemeinen „selten sozial isoliert, klinisch verrückt oder mittellos seien”, und dass es keinen einzigen dokumentierten Fall von psychischer Krankheit darunter gebe, wenn auch etliche persönliche Traumata (zum Beispiel durch den gewaltsamen Tod von Angehörigen).

Lankford und seine wissenschaftlichen Kontrahenten haben freilich eines gemeinsam: Sie können nur schwer beweisen, was sie behaupten. Denn ihre Untersuchungsobjekte sind fast alle tot. Man muss sich mit biografischen Informationen, Tagebucheinträgen, Testamenten, Erzählungen Dritter behelfen. Dazu kommt das islamische Selbstmordtabu: Selbst wenn ein Attentäter früher Zeichen von Lebensüberdruss und Selbstmordwünschen zeigte – der Betroffene und seine Angehörigen würden das wohl schwerlich zugeben, weder vor sich selbst noch vor anderen.

Lankford ist sich dieses brüchigen Untergrunds bewusst. Doch selbst wenn die etablierte Meinung, dass Suizidterroristen keine selbstmörderischen Neigungen hätten, sich als weitgehend richtig herausstellen sollte, blieben immer noch unleugbare Ausnahmen, argumentiert er. Und diese Ausnahmen sollten von den USA und ihren Verbündeten zu strategischen Zwecken genutzt werden. „Wenn die etablierte Meinung aber in viel größerem Ausmaß falsch ist, dann könnte diese Erkenntnis den Kampf gegen den Terror revolutionieren.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.01.2011)

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