Dissident: "Gewaltpotenzial in China ist hoch"

(c) Clemens Fabry
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Nur eine große Wirtschaftskrise könne zum Regimewechsel in China führen, meint der Dichter und Dissident Bei Ling. Für eine Demokratie sei es aber zu früh, aber es gibt jetzt schon kleine Fortschritte.

Die Presse: Sie schrieben eine Biografie über Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. Wann hatten Sie zuletzt Kontakt?

Bei Ling: Im Juli. Seit Oktober haben wir überhaupt keine Nachricht von ihm, er ist komplett isoliert. Er weiß auch nicht, dass ich ein Buch über ihn geschrieben habe. Nicht einmal seine Frau hat Zugang zu ihm. Ihr haben sie offenbar eine Sicherheitspolizistin ins Haus gesetzt. Und die versucht, sie von der Ausreise zu überzeugen.

Sie waren lange Jahre mit Liu Xiaobo befreundet. Was für ein Mensch ist er?

Er hat einen komplizierten Charakter, ist sehr kritisch, kann aber dann wieder ein sehr einfacher Mensch sein. Früher war er ein Literat. Mit der Zeit ist er immer politischer geworden. Das ist jetzt sein Leben. Seit Jahren verfasst er keine Literatur mehr. Und: Menschenschicksale gehen ihm sehr nahe. Das Massaker am Tian'anmen-Platz etwa hat er nie verkraftet. Als Anführer der Revolte macht er sich direkt für den Tod der Studenten verantwortlich.

Ist er als Symbol des Widerstands mit Václav Havel vergleichbar?

Er ist jetzt zweifellos eine Leitfigur der chinesischen Opposition, der Nobelpreis hat große symbolische Kraft. Er ist sehr einflussreich. Liu Xiaobos Charta 08 ist sehr breit verfasst, vereint sehr viele Aspekte der Opposition in sich. Anderseits kann er sehr direkt, radikal und undiplomatisch sein. Er war etwa ein Fan der Bush-Regierung, hat den Irak-Krieg unterstützt. Das haben ihm viele übel genommen. Anders als Havel, der sein Vorbild ist, ist Liu kein Zuhörer. Havel war ein Königsmacher. Wir Chinesen wollen meist selbst Könige sein. Aber Lius Persönlichkeit eignet sich nicht wirklich zum „König“...

Wie „gefährlich“ ist dieser Nobelpreis für das Regime?

Die meisten Chinesen wissen wenig darüber, es interessiert sie auch nicht. Auch Liu Xiaobo interessiert sie nicht. Eine große Bedeutung hat der Preis aber für die Intellektuellen in den Städten: Das sind etwa zehn Prozent der Bevölkerung.

Wie groß ist die Unzufriedenheit mit der kommunistischen Partei?

Inzwischen hat China ja ein kapitalistisches System, dadurch ist das Regime gefestigt. Das Einzige, das es zum Sturz bringen könnte, ist eine große Wirtschaftskrise. Noch weiter steigende Preise etwa könnten Millionen auf die Straße bringen. Das Gewaltpotenzial ist sehr hoch. Es ist fraglich, ob die Partei die Kontrolle bewahren könnte.

Man hört auch immer wieder von sozialen Proteste auf dem Land.

Es sind vereinzelte, nicht koordinierte Unruhen. Es kann aber sein, dass die Situation explodiert.

Droht nach einem Umsturz nicht eine komplette Anarchie? Eine vereinte Opposition gibt es ja nicht.

Es gibt sehr viele Fraktionen innerhalb der Partei. Falls es zu Problemen kommen sollte, wird es Bestrebungen einiger Oppositioneller geben, mit gemäßigteren Fraktionen zusammenzuarbeiten.

Wird es unter dem designierten Parteichef Xi Jinping eine Öffnung geben? Sein Vater galt ja als Reformer.

Der Westen muss verstehen: Der neue Anführer ist irrelevant. Er ist eine Kompromissfigur. Er wird nichts Radikales tun. Er kann es gar nicht: Im modernen China zählt das System, nicht die Person. Es gibt nicht „den Diktator“, der alles verändern kann. Wir haben keinen Gorbatschow. Innerhalb des autoritären Systems herrscht so etwas wie „Demokratie“: Veränderungen können nur Mehrheiten bewirken.

Was sollte das Ziel der Opposition sein?

Meinungsfreiheit – etwa in Form von unabhängiger Presse. Für ein demokratisches System ist es zu früh. Es wäre gefährlich zu wählen, ohne etwas Freiheit gelebt zu haben. Es gibt jetzt schon immer wieder kleine Fortschritte – auf die oft repressive Rückschläge folgen. Es ist ein dialektischer Prozess.

China stellt sich gerne als friedliche Supermacht da. Ist das glaubwürdig?

China ist gefährlich. Derzeit festigt das Regime seine Macht, baut das Militär aus. Künftig wird es eine aggressivere Außenpolitik betreiben, um seine Interessen zu schützen.

Seit Ihrer Festnahme 2000 leben Sie im Exil. Sehen Sie für sich eine Zukunft in China – eine politische?

Ja, ich habe Heimweh. Ich bin viel in Taiwan. Das Internet ermöglicht eine gewisse Nähe. Aber in die Politik will ich nicht. Da bin ich anders als Liu. Ich möchte nur schreiben, zum Denken anregen. Das ist der Unterschied zwischen uns beiden.

Zur Person

Der chinesische Dichter Bei Ling, Freund des Nobelpreisträgers Liu Xiaobo, wurde 2000 wegen seiner regimekritischen Schriften verhaftet. Nach seiner Freilassung zog er in die USA und nach Taiwan. Im Dezember erschien seine Biografie über Liu Xiaobo („Der Freiheit geopfert“, Riva-Verlag).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2011)

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