Tunesien: Ben Ali tritt Flucht nach vorne an

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Staatschef Ben Ali feuert den Innenminister. Premierminister Ghannouchi kündigt die Freilassung aller Demonstranten an. Gleichzeitig ließ der Präsident an sensiblen Punkten in Tunis das Militär aufmarschieren

Tunis/Wien/Ag./Hd. Tunesiens Regime vollzog am Mittwoch eine Kehrtwende - zumindest verbal: Nachdem die seit Mitte Dezember tobenden Unruhen mit vermutlich Dutzenden Todesopfern in der Nacht auf Mittwoch die Hauptstadt Tunis erreicht hatten, kündigte Premierminister Mohamed Ghannouchi die Freilassung aller festgenommenen Demonstranten an.

Präsident Zine el-Abidine Ben Ali brachte den Protestierenden auch ein personelles Opfer dar: Er entließ seinen Innenminister, Rafik Belhaj Kacem. Noch vor Tagen hatte Ben Ali die Proteste als „terroristischen Akt" bezeichnet und harte Strafen angekündigt.

Gestern abend wurde in der Hauptstadt eine nächtliche Ausgangssperre verhängt, vorerst auf unbestimmte Zeit. Gleichzeitig ließ der Präsident an sensiblen Punkten in Tunis das Militär aufmarschieren: Panzer und Bewaffnete wurden positioniert, auch vor dem Gebäude des Rundfunks und der französischen Botschaft marschierten Soldaten auf. Die Straßenschlachten zwischen jungen Leuten und der Polizei gingen dennoch weiter.

Paris will sich nicht einmischen

Frankreich zählt zu den wichtigsten Stützen des Regimes. Außenministerin Michèle Alliot-Marie hatte am Dienstag gesagt, Paris werde Tunesien sicher „keine Lektionen geben" und hat sogar Frankreichs Hilfe angeboten: Priorität habe die Beruhigung der Lage: „Eine Beruhigung, die sich auf Techniken stützt, die Ordnung aufrechtzuerhalten." Frankreich habe bei diesem Thema Erfahrung, meinte Alliot-Marie. Die ehemalige Kolonialmacht hält sich mit Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in Tunesien traditionell sehr zurück.

Die EU, weitaus wichtigster Handelspartner Tunesiens, schlug am Mittwoch einen kritischeren Ton an und verurteilte die Niederschlagung der Demonstrationen: „Wir können den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt durch die Polizei gegen friedliche Demonstranten nicht akzeptieren", sagte eine Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton.

Seit Mitte Dezember hatte es in mehreren Städten Tunesiens soziale Proteste gegeben, nachdem sich ein 26-Jähriger aus Frustration über seine Lage selbst angezündet hatte. Seit dem vergangenen Wochenende eskalierte die Lage: Die Proteste gerieten zusehends außer Kontrolle, die Polizei schoss mit scharfer Munition auf die Demonstranten, es gab zahlreiche Tote.

Über die Zahl der Todesopfer gibt es höchst unterschiedliche Angaben: Laut Regierung sind es bisher 21, die Gewerkschaften und Menschenrechtler gehen von 35 bis 70 aus. Auch am Mittwoch gingen die Unruhen weiter, mindestens ein Mann wurde getötet.

US-Botschaft warnte schon 2009

Tunesien glänzt zwar im regionalen Vergleich mit guten Wirtschaftsdaten, es gibt jedoch immense regionale Unterschiede zwischen den wohlhabenderen Küstenregionen und dem ärmeren Hinterland im Westen und Süden, wo die Arbeitslosenrate höher ist. Kritiker der Regierung werfen dieser zudem seit Langem Korruption und Bereicherung vor.

Eine von der Enthüllungsplattform WikiLeaks veröffentlichte Depesche der US-Botschaft kommt zu einem ähnlichen Schluss: „Die Korruption im inneren Kreis wächst. Der Durchschnitts-Tunesier ist sich dieser Sache mittlerweile sehr bewusst, und der Chor der Beschwerden schwillt an." Die Risken für die langfristige Stabilität des Regimes würden steigen, schrieb Botschafter Robert F. Godec im Juli 2009. Er sollte recht behalten.

Auf einen Blick

Soziale Unruhen in Tunesien forderten seit Mitte Dezember Dutzende Menschenleben. Mehrere Menschen haben sich aus Verzweiflung selbst verbrannt, zahlreiche starben durch Polizeikugeln. Am Mittwoch weichte Präsident Ben Ali seine harte Haltung etwas auf, entließ den Innenminister und kündigte die Freilassung verhafteter Demonstranten an.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13. Jänner 2011)

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