Die schleichende Islamisierung von Atatürks Republik

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Langsam mehren sich die Anzeichen, dass es in der Türkei bald wieder islamischer zugehen könnte. Mit einer Reihe von Maßnahmen gibt die Regierung von Erdoğan Kritikern recht, die vor geheimer Agenda warnen.

Istanbul. Für einen türkischen Lehrer kann es mitunter gefährlich sein, die Frage eines Schülers nach bestem Wissen zu beantworten: Dies musste ein Grundschullehrer in der Hauptstadt Ankara nun erfahren. Er wurde von der Schulbehörde verwarnt, weil er den Schülern einer fünften Klasse Darwins Evolutionstheorie erklärte. Ein Schüler wollte wissen, ob es denn stimme, dass der Mensch vom Affen abstamme. Die Gewerkschaft ortet im Rüffel für den Lehrer ein Anzeichen für Islamisierung des Bildungswesens.

Seit die islamisch-konservative AK-Partei vor acht Jahren das Ruder in der Türkei übernommen hat, lebt ein beträchtlicher Teil der Türken mit der Angst, ihr „unislamischer“ Lebensstil könnte ihnen irgendwann unmöglich gemacht werden. Lange ist nicht viel geschehen, doch in letzter Zeit mehren sich die Anzeichen dafür, dass es in Atatürks Republik bald wieder islamischer zugehen könnte: Im Herbst wurden die Steuern auf Alkoholika massiv angehoben. Kurz darauf kam eine neue Verordnung zum Jugendschutz heraus. Danach ist es jetzt etwa nicht mehr möglich, auf Hochzeiten ohne Genehmigung Alkohol auszuschenken, es sei denn die Feier findet an einem Ort statt, wo dies ohnehin erlaubt ist. Insgesamt sind die Bestimmungen nicht besonders restriktiv, doch viele Dinge, die bisher jeder tun konnte, sind plötzlich an eine spezielle Genehmigung gebunden.

Als Vizepremier Bülent Arinc nach der neuen Regelung gefragt wurde, fiel er aus dem Mantra der Regierungsvertreter, dass alles nur dem Jugendschutz diene: „Natürlich kritisieren wir niemandes Lebensweise“, hob Arinc mit einem typischen „Aber-Satz“ an, um dann fortzufahren: „Das Leben besteht nicht aus Alkohol, das Leben besteht nicht aus Sex.“

Die Offenheit von Arinc ist selten. Der Alkohol wird offiziell wegen des Jugendschutzes eingeschränkt, Schweinemästereien vor Jahren zugemacht, weil keine Genehmigung existierte – und auch nicht zu bekommen war. Und der eingangs erwähnte Lehrer wurde abgemahnt, weil er über ein Thema gesprochen hatte, das nicht zum Stoff des Unterrichts gehöre.

Erdoğan wettert gegen Denkmal

Aufmerksamkeit erregt auch der Streit um ein Werk des international renommierten Bildhauers Mehmet Aksoy. Die beiden überlebensgroßen Statuen, die als „Denkmal der Menschlichkeit“ in Sichtweite der armenischen Grenze aufgestellt sind, hatte Premier Recep Tayyip Erdoğan jüngst bei einem Besuch in Kars als „monströses Ding“ bezeichnet, das er nicht mehr sehen wolle. Assoziationen zur Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan durch die Taliban wurden wach. Eine Versetzung des riesigen Monumentes ist unmöglich, man kann es nur sprengen oder mit dem Presslufthammer zerstören.

Kulturminister Ertugrul Günay beschwichtigte: Erdoğan habe nicht das Kunstwerk, sondern dessen Umgebung bezeichnet. Doch der Premier widersprach: Natürlich habe er das Monument gemeint. Schließlich gebe es eine Entscheidung der Denkmalschutzbehörde dagegen. Die hatte, als es fast fertig war, ihre Genehmigung widerrufen. Außenminister Ahmet Davutoğlu nennt den wahrscheinlich wesentlichen Grund dafür: Das Denkmal passe einfach nicht in die von der islamischen Kultur geprägte Architektur von Kars.

Alles nur Einzelfälle – oder der Beginn einer islamistischen Kulturrevolution in Anatolien?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.01.2011)

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