Elias Jammal: „Befürchte Blutvergießen ungeahnten Ausmaßes“

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Der Leiter des Orientinstituts für Interkulturelle Studien an der Universität Heilbronn, glaubt nicht an den schnellen Rückzug Gaddafis. Er könnte seine Elitetruppen bis zum bitteren Ende kämpfen lassen.

Die Presse: Hat es Sie überrascht,

dass Gaddafi dermaßen brutal gegen sein Volk vorgeht?

Elias Jammal: Nein, überhaupt nicht. Schon in den 1980er- und 90er-Jahren ließ Gaddafi Oppositionsbewegungen ohne Rücksicht auf Verluste blutig niederschlagen. Er ist ein Mann, der nicht in einem Sinne rational agiert, wie wir Westeuropäer das von einem Politiker erwarten würden. Gaddafi ist nicht zurechnungsfähig, schwankt zwischen Rationalität und Wahnsinn.


Wie lässt sich das politische System in Libyen erklären?

Das System hat eine duale Struktur. Auf der einen Seite steht Gaddafis sozialistisch-islamische Direktdemokratie, die auch in seinem Grünen Buch verankert ist. Gaddafis Verständnis von Demokratie schließt etwa kein Parteiensystem ein, das das Volk vertritt; Parteien hat er seit jeher verboten. Die andere Struktur ist jene der Revolution, die sich aus dem Revolutionsrat und den Revolutionskomitees im Land zusammensetzt, deren Solidarität erkauft ist.


Welche Szenarien sind nach dem möglichen Sturz Gaddafis denkbar?

Ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt zum Sturz kommt; jedenfalls steht dieser nicht unmittelbar bevor. Die stark bewaffneten militärischen Einheiten Gaddafis stehen ja weiter hinter ihrem Oberbefehlshaber. Sollte sich die Armee auf die Seite der Demonstranten schlagen, ist ein Blutvergießen ungeahnten Ausmaßes zu befürchten. Gaddafi sitzt in Tripolis in einer hoch gesicherten Anlage, er kann es also drauf ankommen lassen. In Libyen werden nicht die Demonstranten über den Sturz des Diktators entscheiden, sondern die militärische Stärke der Kampftruppen.

Welche Gruppierungen könnten nach dem Sturz eine entscheidende Rolle spielen?

In Libyen gibt es, anders als in Ägypten, keine politischen Strukturen, weil Gaddafi ein Parteiensystem nie zugelassen hat. Nach einem Sturz des Machthabers wäre das Land also in einer sehr schwierigen Situation. Eine wichtige Rolle könnten die Islamisten von Sanussi spielen, die Nachfolger der alten Königsfamilie. Sie sind die einzige organisierte Gruppierung mit einer langen Tradition im Land. Eine Rückkehr zur Monarchie halte ich aber für undenkbar.

Wie würden sich die Stämme verhalten?

Nach dem Fall Gaddafis würde eine starke Rivalität zwischen den Stämmen ausbrechen, die bisher durch das Regime unter dem Deckel gehalten wurde. Mindestens zwei große Stämme haben sich schon von Gaddafi losgesagt. Was aber, wenn der gemeinsame, äußere Feind nicht mehr da ist? Wer übernimmt dann die Kontrolle über die Ressourcen? Das ist derzeit sehr schwer absehbar. Wahrscheinlich wird auf einen möglichen Sturz des Diktators eine chaotische Phase folgen.

Zur Person

Elias Jammal (55) ist Professor für Interkulturelle Studien an der Hochschule Heilbronn in Deutschland. Er leitet dort die Forschungseinrichtung Orientinstitut für Interkulturelle Studien (OIS). [HS Heilbronn]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.02.2011)

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