Der arabische Aufstand und seine Folgen

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Der arabische Raum ist im Umbruch. Optimisten wittern bereits eine Entwicklung hin zu einer offenen Gesellschaft, Pessimisten sehen Stillstand oder islamistische Regimes in den Startlöchern.

Das Lauffeuer der Revolte, das in diesen Wochen durch die arabische Welt geht, hat bei vielen Beobachtern den Eindruck einer politisch einheitlichen Bewegung hinterlassen: Wenn alles gut gehe, so die Optimisten, werde der Großraum von Rabat bis Riad eine Entwicklung erfahren, die zu offeneren Gesellschaften mit mehr politischer Teilhabe und einer gerechteren Verteilung der Einkommen und Vermögen führen werde. Die Pessimisten hingegen sehen den Aufstand in neuerlichem Stillstand oder islamistischen Regimes nach Teheraner Modell enden. Der Fehler beider Prognosen dürfte darin bestehen, dass sie die sozioökonomischen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern der arabischen Welt unterschätzen. Die Erfolgschancen der Revolte sind sehr verschieden verteilt, die Aufstände selbst sind von unterschiedlicher Intensität, und so werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass die arabische Welt bunter und vielgestaltiger wird. Das zumindest dürfte sicher sein.

Es ist frappierend, wie sehr die religionskulturalistische Betrachtungsweise, derzufolge der Islam das entscheidende Merkmal der arabischen Länder sei, in den letzten Jahren dazu geführt hat, die ökonomischen und sozialen Unterschiede zwischen ihnen zu vernachlässigen und den Umstand, dass in ihnen überwiegend Muslime leben, zum ausschließlichen Identitätskriterium zu erheben. Darüber ist regelrecht in Vergessenheit geraten, was wir in Europa eigentlich wussten: dass es im arabischen Raum rohstoffreiche und rohstoffarme Länder gibt; dass einige von ihnen, insbesondere die Länder des Maghreb, einen intensiven Austausch mit Europa pflegen, der vor allem von Arbeitsmigranten getragen wird, während er in anderen auf die Shoppingtouren einer reichen Ober- Die Aufstände werden die arabische Welt mit großer Wahrscheinlichkeit um einiges bunter machen. Das zumindest dürfte einigermaßen sicher sein. schicht begrenzt bleibt; dass einige dieser Länder ein rasantes demografisches Wachstum erfahren haben, das jetzt in Jugendrevolten am Anfang des Aufstandes seinen Ausdruck gefunden hat, während andere Länder eher dünn besiedelt sind und deren Wirtschaft ohne einen permanenten Zustrom von Gastarbeitern nicht funktionieren würde. Schließlich gibt es Länder, die eine lange gemeinsame Geschichte haben, und solche, deren staatliche Gestalt sich eher den Eingriffen europäischer Mächte verdankt als einem gemeinsamen politischen Willen der Bevölkerung. Die Wellen des Aufstandes, die jetzt durch die arabische Welt branden, werden diese Unterschiede verstärken.

Hoffnungsland Tunesien. Die verschiedentlich geäußerte Hoffnung, der arabische Aufstand werde auf mittlere Sicht zu demokratischen Ordnungen und einer Wirtschaft führen, deren Prosperität nicht wesentlich auf dem Export von Rohstoffen beruht, dürfte allenfalls in einigen Ländern in Erfüllung gehen: am ehesten vermutlich dort, wo es kein Erdöl in nennenswertem Umfang gibt, das Bildungsniveau der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen ist und es gelingt, das Beschäftigungsniveau in der regulären Ökonomie deutlich anzuheben. Tunesien hat hier wohl die besten Chancen, gefolgt von Ägypten, wo die Ausgangslage aber um einiges schwieriger ist. In beiden Ländern hat sich eine gesellschaftliche und politische Mitte entwickelt, die als Träger einer stabilen Demokratie unverzichtbar ist. Ob diese mittleren Schichten gegenüber den Eliten des alten Regimes und den eigenen Unterschichten genügend Integrationskraft entwickeln können, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Dabei dürfte entscheidend sein, dass diese Mitte Perspektiven des wirtschaftlichen Auskommens und des sozialen Aufstiegs entwickeln kann, was ohne europäische Hilfe wohl kaum gelingen wird.

Den Staaten einer möglichen Herrschaft der mittleren Schichten (wobei sich das Maß der Mitte deutlich von dem in Europa unterscheidet) stehen die Länder gegenüber, in denen sich die alten Eliten auf unabsehbare Zeit an der Macht halten werden. Sie sind dazu in der Lage, weil sie aus dem Erdölexport über Geldmittel verfügen, mit denen sie die relevanten Gruppen der Gesellschaft pazifizieren und stillstellen können. Die Bodenschätze werden hier dazu genutzt, politische Ruhe, soziale Stabilität und ökonomische Stagnation zu finanzieren. Das kann so lange funktionieren, wie die Bodenschätze vorhanden sind, und da deren Preis mit wachsender Verknappung immer weiter ansteigt, dürfte das noch lange dauern. Für die politische Stabilität dieser Länder ist der Umstand ausschlaggebend, dass ihre Wirtschaft wesentlich von Arbeitsmigranten in Gang gehalten wird, die zu Revolten weder bereit noch fähig sind. Das Augenmerk dieser importierten Arbeiterschaft gilt den jeweiligen Heimatregionen, wohin sie auch den Großteil ihres Lohnes überweisen, und sobald sich das ändert, werden die Arbeitsmigranten schnell außer Landes gebracht.

Es gibt aber noch einen dritten Typ, bei dem ethnische oder konfessionelle Trennlinien, politische Gegensätze und breite sozial verelendete Schichten eine Stabilisierung durch die soziopolitische Mitte oder eine von den traditionalen Eliten erkaufte Ruhe verhindern: Algerien dürfte dazu gehören in jedem Fall Libyen und der Jemen, und womöglich auch der Irak nach dem bevorstehenden Rückzug der Amerikaner. Hier, wo es weder traditionelle Eliten noch eine neue soziopolitische Mitte gibt, ist die Errichtung religiöser, also islamistischer Regimes oder aber der Aufbau einer Militärherrschaft wahrscheinlich. Wenn die Gesellschaft aus sich heraus keine Ordnung entwickelt, wird diese durch diejenigen hergestellt, die über den Glauben oder die Gewalt verfügen. Aber auch das werden soziopolitische Ordnungen mit begrenzter Halbwertzeit sein, weil sie gegenüber den dynamischen Veränderungen ihrer Umgebung nicht hinreichend flexibel sind. Innerhalb der herrschenden Gruppierungen entstehen zunächst Meinungsverschiedenheiten und dann Gegensätze über die angemessene Reaktion auf diese Veränderungen, und im Gefolge dessen kommt es zu Machtkämpfen, wie wir sie im Iran vor etwas mehr als einem Jahr beobachten konnten. Der Fortgang des iranischen Machtkampfs ist im Augenblick durch massiven Gewalteinsatz blockiert, eine Entscheidung ist noch nicht gefallen. Sie wird in jedem Fall Auswirkungen auf die arabische Welt haben.

Welche Bedeutung hat unter diesen Umständen die Türkei als Modell für eine schrittweise Transformation der arabischen Welt? Türkisches Modell heißt: Distanzierung vom Islam, ausgeprägter Säkularismus, Europa als Vorbild, eine starke Rolle des Militärs - und nach Jahrzehnten einer schrittweisen Modernisierung, getragen von technokratischen Eliten, seit etwa zwei Jahrzehnten eine langsame Demokratisierung. Aber haben die arabischen Länder so viel Zeit, wie sie die Türkei nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gehabt hat? Und verfügen sie über eine Staatsklasse mit einem so ausgeprägten Dienstethos wie die Türkei? Beides ist zu bezweifeln. Man müsste das türkische Modell also stark anpassen, um es als arabischen Entwicklungspfad gangbar zu machen.

Rolle des guten Vaters. So offen, wie die zukünftigen Entwicklungen in der arabischen Welt sind, so sicher ist jedoch eines: Der arabische Aufstand hat ein politisches Ordnungs- und Legitimationsmodell hinweggefegt, das sich dort in den letzten Jahrzehnten entwickelt und zeitweilig als vielversprechend gegolten hat. Danach hat sich ein zumeist durch einen Militärputsch an die Macht gekommener Führer die Rolle des guten Vaters zugelegt, der für die Landeskinder sorgt und ihr Bestes will. Die Nachfolgefrage, der Knackpunkt aller politischen Ordnungen, sollte durch eine schrittweise Machtübertragung auf die Söhne gelöst werden. In Syrien immerhin hat das funktioniert, und in Ägypten hätte es funktionieren können, wenn Hosni Mubarak vor fünf Jahren gestorben wäre und sein Sohn Gamal die Unterstützung des Militärs gefunden hätte. Ob in Libyen die Gaddafi-Söhne nach einem blutigen Bürgerkrieg das Erbe des Vaters antreten können, wird wesentlich vom Eingreifen oder Nichteingreifen der Nato abhängen. Die Söhne Saddam Husseins, mit denen der irakische Herrscher Ähnliches vorhatte, sind beim Versuch ihrer Festnahme durch amerikanische Soldaten getötet worden.

Aber das Modell des guten Vaters und der ihm nachfolgenden guten Söhne weist zwei entscheidende Schwachpunkte auf, die durch den Aufstand schonungslos offengelegt worden sind: die Korruption im Inneren der Herrschaftsclique, die unvermeidlich ist, wenn sie nicht durch ein strenges Dienstethos blockiert wird. Das aber war nirgendwo zu erkennen; am ehesten vielleicht noch in Syrien, weswegen die Nachfolge dort auch geklappt hat. Mit der Korruption aufs Engste verbunden ist die Vernachlässigung vieler Landeskinder, für die der vorgeblich gute Vater sich als desinteressierter Herr und schließlich als grausamer Despot erwiesen hat. Wie auch immer der Aufstand in der arabischen Welt weitergehen und zu welchen Ergebnissen er führen wird: Das paternalistische Modell der Legitimitätsbeschaffung ist durch ihn erledigt worden. Tatsächlich hat es zusammen mit den traditionellen Monarchien und Scheichtümern den Eindruck einer gewissen politischen Einheitlichkeit der arabischen Welt hergestellt.

Eine Sackgasse nach der anderen. Der Aufstand hat die Illusion beseitigt, dass alle arabischen Staaten sich auf ein und demselben Entwicklungspfad bewegen. Wenn nicht nur die europäischen Beobachter, sondern auch die politischen Akteure in den arabischen Ländern zwischen Rabat und Riad das realisieren, ist ein großer Schritt getan. Es ist dies die Befreiung von den religionskulturellen Wahrnehmungs- und Identifikationsmustern des Islam, die sich als eine gravierende Entwicklungsblockade erwiesen haben. Wenn im Gefolge des Aufstandes die arabische Welt bunter wird, das heißt, die Länder ihren eigenen Entwicklungspfaden folgen, wird das eine Konkurrenz und damit Dynamik in diese Region bringen, die befreiend wirkt. Die arabische Welt hat nicht zuletzt darunter gelitten, dass man meinte, man müsse ein und demselben zeitweilig erfolgreichen Modell folgen. So ist man in eine Sackgasse nach der anderen gerannt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.03.2011)

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