Interview: „Russland misst mit zwei Ellen“

Der herausragende Osteuropa-Kenner Andreas Kappeler über Moskaus imperiale Reflexe im Nahen Ausland.

Die Presse: Wie sieht der Osteuropahistoriker den gegenwärtigen Konflikt zwischen Georgien und Russland. Entdecken Sie da auch historische Wurzeln?

Univ.-Prof. Andreas Kappeler: Es gibt historische Wurzeln, aber der gegenwärtige Konflikt hat in erster Linie aktuelle Hintergründe. Da ist einmal die sogenannte „Rosenrevolution“ vom Spätherbst 2003, die für Russlands Präsident Wladimir Putin eine Herausforderung war: Zum einen, weil eine demokratische Revolution ein autoritäres Regime immer herausfordern muss; zum anderen, weil Georgiens Präsident Michail Saakaschwili gute Beziehungen zu den USA hat, weswegen sofort die Amerikaner als Drahtzieher der „Rosenrevolution“ vermutet wurden – ganz ähnlich wie bei der Orangen Revolution in der Ukraine ein Jahr später.

Also geht es im Hintergrund vor allem auch um das amerikanisch-russische Ringen im postsowjetischen Raum um Einfluss?

Kappeler: Es geht darum, dass Russland das sogenannte „Nahe Ausland“ – also die ehemaligen Sowjetrepubliken mit Ausnahme der drei baltischen Staaten – als sein Einflussgebiet betrachtet. Deshalb wird jeder äußeren Einmischung in diesem Raum mit politischen und ökonomischen Maßnahmen begegnet. Und natürlich sind es in erster Linie die USA, die Russland in die Quere kommen. Neu sind dabei zum Teil die Instrumente, die Russland zur Einflussnahme einsetzt, vor allem die ökonomischen. Das hängt zusammen mit dem Wirtschaftsboom in Russland, der auf den Einnahmen aus dem Erdgas- und Erdölexport basiert. Hier hat Moskau ein Instrument in der Hand, um nicht-konforme ehemalige Sowjetrepubliken unter Druck zu setzen.

Sie spielen auf das Zudrehen des Gashahns oder exorbitante Preiserhöhungen an.

Kappeler: Schauen Sie sich nur die Preisgestaltung an. Die Erdgaspreise für Russland und Weißrussland sind gleich, auf sehr niedrigem Niveau. Die Preise für die Ukraine, Georgien, Moldova sind im Laufe eines Jahres fast verdoppelt worden, sind zwei- bis dreimal höher als für Weißrussland. Die Preise für das westliche Ausland aber sind aber noch viel höher. Die Einführung solcher „westlicher“ Gastarife, mit der Moskau den Staaten des „Nahen Auslands“ droht, würde die wirtschaftlich zumeist sehr schwachen Staaten schwer treffen.

Insgesamt scheint das russisch-georgische Verhältnis aber reichlich ambivalent.

Kappeler: Tatsächlich: Einerseits hat sich Georgien immer wieder gegen das russisch dominierte Zentrum zur Wehr gesetzt, insbesondere, als es die unabhängige Republik Georgien 1918 bis 1921 gab. Und im Frühjahr1991 war Georgien nach Litauen die zweite Sowjetrepublik, die ihre Unabhängigkeit erklärte. Andererseits ist es ein seltsames Phänomen, dass aus Georgien immer wieder Persönlichkeiten in der sowjetischen Zentrale eine führende Rolle spielten: Josif Dschugaschwili alias Stalin oder Lawrentij Berija und später Eduard Schewardnadse, den Michail Gorbatschow zu seinem Außenminister machte.

Was aufgefallen ist, ist die Härte, mit der Moskau im jüngsten Konflikt gegen Georgien vorgeht. Etwa, dass die russischen Behörden eine Aktion scharf gegen georgische Geschäftsleute und Restaurantbesitzer unternehmen. Das riecht schon fast nach Rassismus.

Kappeler: Es gibt in der russischen Bevölkerung tatsächlich einen anti-kaukasischen Rassismus. Der hängt mit dem Tschetschenien-Krieg zusammen, aber auch mit den vielen Händlern kaukasischer Abstammung in Russland. Dennoch: Ich glaube nicht, dass die russische Politik mit der Kategorie Rassismus hinreichend beschrieben werden kann. Es geht vielmehr darum, Georgien abzustrafen, weil dieser ökonomisch schwache Zwerg sich getraut hat, die Großmacht Russland herauszufordern. Die Verhaftung russischer Offiziere in Georgien war dabei nur der Auslöser, die das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Schon vorher hat der georgische Präsident Saakaschwili versucht, die abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien mit einem dosierten Einsatz von Gewalt wieder unter seine Fittiche zu bekommen. Das wurde von Moskau ausgesprochen negativ gesehen. Denn diese Gebiete sind heute ja de facto unabhängig und unter russischem Einfluss.

Deshalb auch das Einfuhrverbot für georgischen Wein und Mineralwasser Anfang dieses Jahres. . .

Kappeler: . . . ja, und zwar unter fadscheinigen Gründen. Jetzt wurden diese Maßnahmen ja zu einer völligen Blockade ausgeweitet. Das hat Georgien schon ziemlich hart getroffen und antirussische
Gefühle im Land verstärkt. Es leben zwischen einer halben und einer Million Georgier in Russland, die meisten von ihnen illegal, weshalb es für die russischen Behörden leicht ist, gegen sie vorzugehen. Man schätzt, dass die Überweisungen, die sie in ihre Heimat tätigen, an die 20 Prozent des georgischen Bruttosozialproduktes ausmachen. Leicht auszumalen, was es für Georgien bedeutet, wenn diese Überweisungen ausbleiben.

Lässt sich der Konflikt so beschreiben? Da stehen sich der große russische Kraftlackel und das kleine unschuldige Georgien gegenüber?

Kappeler: So einfach ist es nicht. Präsident Saakaschwili hat in den drei Jahren seit der Rosenrevolution die Hoffnungen seiner Landsleute nicht erfüllt. Seine Popularität ist ständig gesunken. Bei meinem letzten Besuch in Tiflis vor einem Jahr war ich erstaunt darüber, kaum jemandem zu begegnen, der ihn unterstützt hätte. Saakaschwilis Provokationen gegen Russland waren sicher auch dazu da, um seine im Inneren unsicher gewordene Position wieder zu festigen. Das dürfte ihm gelungen sein – mindestens für eine gewisse Zeit. Man muss aber dennoch fragen, ob es eine kluge Politik war, Russland herauszufordern, den übermächtigen Nachbarn, von dem man ökonomisch abhängig ist.

Weil Sie Abchasien und Südossetien erwähnt haben, dazu kommt auch noch das von Moldova abtrünnige Transnistrien: Warum lässt Moskau nicht zu, dass diese sogenannten „eingefrorenen Konflikte“ auftauen und am Verhandlungstisch gelöst werden?

Kappeler: Moskau benutzt diese Konflikte als Hebel, um die unabhängigen Staaten – in diesem Fall Georgien oder Moldova – unter Druck zu setzen. Die Situation ist nicht einfach, denn die Bevölkerung in den drei separatistischen Provinzen ist offensichtlich tatsächlich pro-russisch eingestellt. Die Mehrheit der Bewohner in Abchasien und Südossetien hat inzwischen die russische Staatsbürgerschaft angenommen. Das heißt, de facto sind sie nicht nur unabhängig sondern eigentlich schon Teile Russlands geworden. Das widerspricht internationalen Abmachungen, die davon ausgegangen sind, dass die Grenzen der ehemaligen Sowjetrepubliken nicht angetastet werden und Ansprüchen der Autonomen Regionen auf Selbstständigkeit nicht stattgegeben wird.

Wird da also das Völkerrecht missachtet?

Kappeler: Jedenfalls ist es eine heiße Sache, weil Moskau hier eindeutig mit zwei Ellen misst: Einerseits mischt es sich massiv in die georgische Innenpolitik ein, wenn es Abchasien und Südossetien unterstützt. Andererseits würde Moskau nie dulden, dass sich eine ausländische Macht politisch oder militärisch in Tschetschenien engagiert. Juristisch geht es in beiden Fällen um das Gleiche, de facto natürlich nicht. Die ganze Sache hat auch noch eine weitere Dimension: Die Situation des Kosovo, das keine Republik Jugoslawiens gewesen ist, ist im Prinzip dieselbe wie die von Abchasien oder Tschetschenien. Im Kosovo ist Russland gegen eine Unabhängigkeit, im Hinblick auf seine eigenen Republiken. Mit Blick auf die Tschetschenienfrage wird es Russland wohl auch hier beim status quo belassen und nicht offiziell eine Annexion Abchasiens und Südossetiens verkünden.

Dass Russland zuletzt die Wahrung seiner Einflusszone im post-sowjetischen Raum wieder so betont, hat schon in erster Linie mit der Präsidentschaft Wladimir Putins zu tun?

Kappeler: Ganz bestimmt. Vor Putin war Russland mit seinen inneren Krisen beschäftigt, vor allem im Wirtschaftsbereich. Jetzt gibt es den Wirtschaftsboom durch die hohen Rohstoffpreise einerseits. Andererseits ist da die Popularität Putins, die es ihm erlaubt, die jetzige Politik gegenüber den Nachbarn zu verfolgen. Diese Politik ist populär. Denn viele in Russland träumen vom alten Imperium und sehen nicht ein, dass Gebiete, die in den Augen vieler Russen mehr oder weniger zu Russland gehören, eigene Wege gehen wollen.

Gibt es feste Grundlagen einer imperialen russischen Außenpolitik?

Kappeler: Interessant ist, dass die russische Politik praktisch seit dem 19. Jahrhundert besonders stark die Gebiete zur Einflusssphäre rechnet, wo eine orthodoxe Mehrheit lebt, die also zur großen Gemeinschaft der orthodoxen Kirche gehören: das trifft für die Ukraine, Weißrussland, Moldova und Georgien zu. Umgekehrt eignet sich seine „harte“ Politik im Nahen Ausland prächtig, um von inneren Problemen abzulenken – ähnlich wie das ja auch Saakaschwili tut. Probleme wie die Knebelung der Medien, die immer größer werdenden Unterschiede zwischen Arm und Reich ebenso wie zwischen den Regionen. Dazu ist eine imperiale Außenpolitik ein probates Mittel.

Wie ist es mit dem russischen Blick auf Zentralasien: Wie passt Zentralasien in das bisher von Ihnen beschriebene Bild?

Kappeler: Zentralasien ist aus historischen und kulturellen Gründen Moskau natürlich nicht so nahe. Auf der anderen Seite sind alle zentralasiatischen Republiken mehr oder weniger auf Russland angewiesen und genauso wie im Kaukasus achtet Russland darauf, dass es seinen Einfluss in Zentralasien behält. Zum Beispiel in Usbekistan, wo die Amerikaner Stützpunkte unterhalten haben, die sie inzwischen wieder räumen mussten. In Tadschikistan wiederum haben die Russen eine große Zahl an Grenztruppen stationiert. Was Kasachstan betrifft, ist das Verhältnis sowieso relativ eng.

Könnte man das, was es zwischen Russland und den zentralasiatischen Republiken gibt als eine Art Solidarpakt zwischen Autarkien beschrieben?

Kappeler: Was Usbekistan anbetrifft, ist diese Beschreibung tatsächlich zutreffend. Der kasachische Präsident ist weniger diktatorisch, aber ein Demokrat ist er auch keiner. Aber wenn man dann auch noch Weißrussland hernimmt, ist offensichtlich, dass es Parallelen gibt, dass es in der Regierungsform eine Art Achse der Autokratien von der polnischen Ostgrenze bis an die chinesische Westgrenze gibt. Diese autoritären Regierungsformen werden von Moskau nicht ungern gesehen.

Zurück zu den Instrumenten russischer Einflussnahme. Die wirtschaftlichen haben Sie erwähnt, wie ist es mit den militärischen?

Kappeler: Die im „Nahen Ausland“ stationierten russischen Truppen sind wichtig. In Transnistrien etwa ist das russische Truppenkontingent zwar nicht sehr groß, aber ohne russische Soldaten gäbe es diese seltsame Republik Transnistrien gar nicht, die übrigens als einzige keine Legitimation aus der Sowjetzeit hat. Es sind zwar nirgends mehr als ein paar tausend russische Soldaten, trotzdem sind diese Truppen ein Instrumentarium der russischen Politik.

Wie sehen Sie die Entwicklung in der Ukraine zwei Jahre nach der orangen Revolution?

Kappeler: Putin hat eine große Scharte ausgewetzt: Im Herbst 2004 hatte er offen Viktor Janukowitsch unterstützt, der dann eine schmähliche Niederlage einstecken musste. Jetzt sitzt Janukowitsch wieder auf dem Posten des Ministerpräsidenten. Wir alle, die wir die orange Revolution mit Sympathie verfolgt haben, waren natürlich sehr enttäuscht, dass die neue Führung es nicht geschafft hat, zu einem Konsens zu finden, obwohl die orangen Kräfte die Mehrheit hätten haben können. Janukowitsch versucht inzwischen bereits, Ergebnisse der Revolution wieder rückgängig zu machen. Man sieht das gut in seiner Personalpolitik. Ich bin persönlich betroffen. Janukowitsch hat den alten Chef der Archive abgesetzt, einen sehr guten Historiker, der sich seit 15 Jahren für eine demokratische Ukraine einsetzt. Er hat ihn durch eine Dame ersetzt, eine Abgeordnete der Kommunistischen Partei, die von Archiven keine Ahnung hat. Andererseits ist klar: Grundsätzlich kann die orange Revolution nicht ungeschehen gemacht werden. Der Herbst 2004 hat das Land tiefgreifend verändert. Heute ist die Ukraine im Vergleich zu Russland ein relativ demokratisches Land, mit erstaunlich fairen Wahlen, mit gesicherter
Pressefreiheit. So gesehen gibt die Ukraine weiter Anlass zu vorsichtigem Optimismus.

Fassen wir noch einmal zusammen: Kann derzeit von einem russischen Versuch, die Sowjetunion wieder aufleben zu lassen, die Rede sein?

Kappeler: Bis zu einem gewissen Grad kann man schon davon sprechen. Präsident Putin selbst hat ja wiederholt den Untergang der Sowjetunion als Katastrophe bezeichnet, und er hat die Hymne und andere Symbole der Sowjetunion wieder eingeführt. Russland ist aber trotz deutlicher autoritärer Tendenzen demokratischer und seine Bevölkerung viel freier als dies in der Sowjetunion der Fall war. Andererseits gibt es in Russland eine Nostalgie nach dem Imperium. Dennoch wird Russland die Grenzen, die 1991 festgelegt worden sind, nicht in Frage stellen. Es gibt den Druck Moskaus auf das Nahe Ausland – und dahinter steckt das Konzept einer Staatengemeinschaft unter russischer Führung. Das ist aber etwas anderes, als es die Sowjetunion war.

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