Gaddafis Regime bröckelt

(c) REUTERS (ZOHRA BENSEMRA)
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Moussa Koussa, Ex-Geheimdienstchef und nunmehr auch Ex-Außenminister, setzte sich nach London ab. Weitere Vertraute könnten folgen. Noch dementiert die libysche Führung den Seitenwechsel.

Wien/Madrid/London. Vor Kurzem war Moussa Koussas Weltbild noch gefestigt, Freund und Feind auf der Landkarte eindeutig zu identifizieren. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien würden „sich nach der Kolonialzeit sehnen“ und versuchten, Libyen zu teilen, sagte Koussa vor wenigen Wochen, damals noch libyscher Außenminister.

Am Donnerstag war der enge Gaddafi-Vertraute dann überraschend in London bei den vermeintlichen Neo-Kolonialherren Nordafrikas anzutreffen, wo er Unterredungen mit hohen britischen Beamten führte. Der Außenminister ist zurückgetreten, hat überraschend die Seiten gewechselt.

Am Mittwoch war der 62-Jährige mit dem schlohweißen Haar zunächst nach Tunesien aufgebrochen, wo er auf der Ferieninsel Djerba zu Gesprächen mit französischen Diplomaten zusammentraf. Danach flog er mit einem Schweizer Privatjet nach London.

Noch dementiert die libysche Führung den Seitenwechsel Koussas. Der Diplomat sei „sehr, sehr krank“, hieß es aus Tripolis, daher habe er zur medizinischen Behandlung das Land verlassen.

Drahtzieher von Lockerbie?

Die britische Hauptstadt ist nicht irgendein, sondern ein denkwürdiger Ort und eine brisante Destination für den (übrigens an einer US-amerikanischen Universität) ausgebildeten Soziologen: Im Jahr 1980 wurde Koussa dort als libyscher Botschafter eingesetzt – und nach einem Eklat ein paar Monate später ausgewiesen. In einem Interview mit „The Times“ hatte er geplante Attentate auf libysche Dissidenten in Großbritannien verteidigt. „Ich stimme dem zu“, hatte Koussa gesagt.

Zurück in seiner Geburtsstadt Tripolis widmete er sich wieder der antiimperialistischen Aktivität – im „Weltzentrum für den Kampf gegen den Imperialismus“. Vor allem aufgrund seiner 15-jährigen Tätigkeit als Chef des libyschen Geheimdienstes, die er 1994 aufgenommen hat, ist der Name Koussa mit den dubiosen Tätigkeiten von Gaddafis Regime eng verknüpft: In Großbritannien firmierte er unter dem Spitznamen „Gesandter des Todes“, da er als mögliches Mastermind des Lockerbie-Attentats gilt. Über dem schottischen Lockerbie explodierte im Jahr 1988 eine US-Linienmaschine durch eine libysche Bombe, 270 Menschen starben.

„Nur wenige von Gaddafis Leuten werden enger mit Gewalt in Verbindung gebracht als dieser Mann, der nun die Gastfreundschaft des britischen Außenministeriums genießt“, sagte der in London lebende libysche Autor Hisham Matar gestern. Außenminister Hague versicherte, Koussa genieße keine Immunität vor Strafverfolgung. Angehörige von Lockerbie-Opfern hoffen nun auf Enthüllungen in der Causa.

In den vergangenen Jahren, insbesondere seit seinem Amtsantritt als Außenminister 2009, sollte Koussa Libyens Ansehen in der Welt verbessern. Er war an der Aufgabe des Programms für Massenvernichtungswaffen ebenso beteiligt wie an den Verhandlungen zur Freilassung der in Libyen inhaftierten Krankenschwestern.

Nun ist er der bisher prominenteste Überläufer – ein Symbol dafür, dass Gaddafis Regime tatsächlich bröckelt. An einen plötzlichen Gesinnungswandel mag kaum einer glauben. Koussas Schritt könnte indes nicht nur große Verunsicherung bei Gaddafis Entourage auslösen, sondern weitere Nachahmer finden. In der Tat wird aus Tripolis berichtet, dass weitere Gaddafi-Gefährten diskrete Gespräche mit westlichen Regierungen über Exilorte führen.

Nicht der erste Überläufer

Libyens Justizminister Mustafa Abdul Jalil hatte sich gleich nach Beginn der Revolution den Aufständischen angeschlossen. Ebenso wie der Innenminister, General Abdel Fatah Junes. Beide haben nun wichtige Funktionen in der Oppositionsführung inne. Auch Libyens Immigrationsminister Ali Errishi hat sich kürzlich abgesetzt. Er kommentierte die Flucht seines Kabinettskollegen Koussa mit den Worten: „Gaddafis Tage sind gezählt.“

Die Überläufer

Sie waren hohe Beamte in Muammar al-Gaddafis Regime – unter dem Eindruck der Revolution wechselten sie die Seiten:

Der 59-jährige Mustafa Jalil(Bild), bisher Justizminister in der libyschen Regierung, sagte sich am 21. Februar von Gaddafi wegen der „exzessiven Gewaltanwendung gegen unbewaffnete Protestierende“ los. Er führt den Vorsitz des „Nationalrates“ der Aufständischen in Bengasi.Das Gremium hat 31 Mitglieder.

Mahmoud Jibril (59) gilt als Autor des politischen Programms des Übergangsrates. Er ist Politologe und war in mehreren arabischen Staaten tätig, bevor Gaddafi ihn zum Chef der staatlichen Planungskommission ernannte.

Omar al-Hariri (67): Der Ex-General ist ein ehemaliger Mitstreiter Gaddafis beim Militärputsch von 1969. Später fiel er in Ungnade, als er Gaddafi vom Thron stürzen wollte. Er verbrachte 15 Jahre im Gefängnis.

Libyens UN-Botschafter Abdurrahman Shalgham (Bild), ein früherer Außenminister, sein Stellvertreter Ibrahim Dabbashi sowie mehrere andere libysche Diplomaten bei der UNO sagten sich schon im Februar von Gaddafis Regime los.

Weitere: Libyens GeneralstaatsanwaltAbdul-Rahman al-Abbar, Immigrationsminister Ali Errishi und Innenminister Abdel Fattah Junestraten ebenso zurück.
[AP, Reuters]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.04.2011)

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