Tripolis wartet auf den zündenden Funken

Tipolis Stadt zuendenden Funken
Tipolis Stadt zuendenden Funken(c) REUTERS (ZOHRA BENSEMRA)
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Während im Osten Libyens die Rebellen Krieg gegen Langzeitdiktator Gaddafi führen, gibt es in der Hauptstadt Tripolis keine Anzeichen von Protest. Dort halten Gaddafi-getreue Milizen die Einwohner unter Kontrolle.

Nach dem Freitagsgebet ist Tripolis wie leer gefegt. Die Geschäfte sind hinter grünen Metallrollläden verschwunden und mit schweren Schlössern abgesperrt. Verlassen die hohen Arkaden der weißen, mehrstöckigen italienischen Kolonialbauten in der Innenstadt, selbst auf den Hauptstraßen sind kaum Autos unterwegs. Nach dem Moscheegang sitzen die Einwohner der Hauptstadt zu Hause vor Couscous oder Basin, einem traditionellen libyschen Gericht aus Mehlteigkugeln, über die man eine Suppe aus Tomaten, Kichererbsen und Fleisch schüttet. Es ist kaum zu glauben: Trotz Bürgerkrieg herrscht Feiertagsstimmung in der libyschen Hauptstadt.

Die Schusssalven, die bis in den späten Nachmittag knallen, sind Freudenfeuer und stören niemand. In fast jedem Haushalt steht eine Kalaschnikow im Schrank, nachdem Muammar Gaddafi vor zwei Wochen „sein Volk gegen Angriffe ausländischer Aggressoren“ bewaffnen ließ. Anzeichen von Protesten gibt es in Tripolis nicht. Dabei könnten die Hauptstädter in der Auseinandersetzung zwischen den Rebellen im Osten und dem Gaddafi-Regime eine entscheidende Rolle spielen und dem seit 42Jahren amtierenden Diktator den letzten Stoß versetzen.

Sind die meisten Libyer im Westen des Wüstenstaats mit ihrem Leben unter Gaddafi zufrieden? Wollen sie keine Veränderung, keine Freiheit und demokratischen Verhältnisse, die ihnen ein exzentrischer Diktator seit so langer Zeit verweigert? Ist Gaddafi noch der geliebte Sohn des Volkes, für den er sich nach wie vor ausgibt?

Mit Libyern in Tripolis über diese Fragen zu diskutieren ist heute nahezu unmöglich. Ein Taxifahrer ist zwar neugierig, wie es in der Rebellenstadt Bengasi zugeht, aber ein Gespräch über den glorreichen Führer blockt er sofort ab. Künstler, Universitätsprofessoren und Intellektuelle wollen mit Europäern nicht gesehen werden. Am Telefon wird jedes Wort sorgfältig abgewogen oder einfach aufgelegt, wenn es um Gaddafi und sein Regime geht.


Wie es dem Diktator gefällt. „Das kann man verstehen, hier wird doch alles abgehört“, erklärt Jalil, ein junger Student, der erst nach langem Zögern bereit ist, etwas zu sagen. „Die Leute haben große Angst“, deshalb sei es so ruhig in Tripolis und anderen Städten. Tausende von Demonstranten wurden zu Beginn der Proteste im Februar verhaftet. Mehr als hundert sollen getötet worden sein, als das Militär das Feuer eröffnete. „Natürlich wünscht sich die Mehrheit der Libyer, dass die Revolution aus Bengasi auch auf den Westen übergreift“, versichert Jalil, der keinerlei nähere Angaben zur Person machen will. „Was ist das für ein System, in dem alle Befehle aus dem Zelt Gaddafis kommen und es nichts Schriftliches, keine festen Strukturen und keinerlei Planung gibt?“

Libyen hat keine Verfassung wie sonst jeder andere Staat. Das Land wird nach den Ideen des Diktators regiert, die er in den 1970er-Jahren in seinem „Grünen Buch“ niederschrieb. Die Kompetenzen der staatlichen Institutionen sind nicht geklärt. Jeder kann sich zuständig fühlen. Entsprechend groß ist das Chaos der Bürokratie, die von der hierarchischen Struktur des Ein-Mann-Führer-Prinzips abhängig ist: Gaddafi, seine Söhne oder ihnen Nahestehende treffen alle wichtigen Entscheidungen. Oft basieren sie auf Lust und Laune, Beziehungen sowie Korruption.

Letzten Sonntag wurde in Tripolis eine neue Verfassung angekündigt, die den Reformwillen des Regimes unterstreichen sollte. Wie und welche Rolle dem „großen Führer“ darin zukommt, wurde nicht erklärt. Für die Rebellen in Begasi kommt diese „libysche Version“ einer Verfassung, mit und ohne Gaddafi, in keinem Fall infrage. „Wir orientieren uns am Westen“, sagte Mustafa Gheriani, Geschäftsmann und Sprecher der Rebellen. „Wir wollen kein extremes System mehr, wie wir es die letzten 40Jahre hatten.“

Bei der Fahrt durch Tripolis kann man immer wieder kleinere Gruppen von Gaddafi-Anhängern beobachten, die am Straßenrand ihren Führer feiern. An der Corniche, unweit des Hafens, sind es etwa 20 junge Mädchen, die zu nationalistischen Liedern aus dem Autoradio tanzen und mitsingen. Sie tragen grüne T-Shirts, Kopftücher und Fahnen mit dem Porträt Gaddafis. Sie wirken wesentlich gepflegter als der Mob, den das Informationsministerium sonst als jubelnde Menge anheuert. Vorbeifahrende Wagen hupen, einige halten an. „Wir machen das freiwillig, was denken Sie“, sagt ein auffallend grell geschminktes Mädchen. „Ich habe mein eigenes Auto und werde als Ingenieurin viel Geld verdienen. Mein Vater ist Beamter und bekommt jetzt mehr Lohn, dank Muammar Gaddafi, der für uns alle sorgt. Wir sind ein wohlhabendes Land.“

Reich durch Öl und Gas. Sie hat nicht ganz unrecht: In den 1950er-Jahren zählte Libyen zu den ärmsten Ländern Afrikas. Heute ist es das reichste. Dank der Öl- und Gasexporte stieg das Pro-Kopf-Einkommen auf 9560Euro. Im UN-Index des menschlichen Entwicklungsstands 2010 steht Libyen auf Position 53 von insgesamt 169Ländern.

Hasan Abu Taleb vom Ahram Zentrum für politische und strategische Studien in Kairo kann die Furcht der Menschen gut nachvollziehen. „Die Angst vor dem Regime ist ein entscheidender Faktor, gerade in einer Situation, in der nicht klar ist, ob Gaddafi bleibt oder gehen muss. Wer setzt schon sein Leben aufs Spiel, wenn die Zukunftsperspektive völlig ungewiss ist.“

Für den Libyen-Kenner bedarf es einer Zuspitzung der Krise, damit der Funken zündet. „Der Druck auf Gaddafi und sein Regime muss wachsen, etwa durch eine Blockade Libyens oder den Anmarsch der Rebellen auf Tripolis.“ Dann würden die Menschen auf die Straße gehen und die Oppositionsanhänger, die sich in Westlibyen auf eine gewaltsame Konfrontation vorbereiteten, im großen Stil losschlagen.

Abu Taleb, der auch als Dozent an der Universität von Kairo lehrt, schätzt den Anteil von echten Gaddafi-Getreuen auf höchstens ein Viertel der insgesamt sechs Millionen starken Bevölkerung. „Das basiert auf Stammeszugehörigkeit und Nutznießern des Regimes, die befürchten, ihren Wohlstand und Machtposten zu verlieren.“

Land der Stämme und Clans. In Libyen gibt es 140 verschiedene Stämme und Clans. Nur 30 davon haben politischen Einfluss. In seiner 42-jährigen Herrschaft versuchte Gaddafi über die Einnahmen aus den Öl- und Gasvorkommen Libyens eine Balance zwischen den Stämmen zu halten. Er verteilte Geld und Posten und stiftete Ehen zwischen verschiedenen Clans. Heute kann sich der Diktator nur mehr uneingeschränkt auf seine Qadhadfa stützen. Bei den anderen beiden Verbündeten, den Warfalla und Magarha, mit mehr als einer Million Mitgliedern, gab es bereits Auflösungserscheinungen. Einige von ihnen wechselten die Seite zu den Rebellen. Mahmoud Jibril, der Vorsitzende der Übergangsregierung in Bengasi, ist ein Warhalla. Gaddafis Minister für Infrastruktur, Maatouq Maatouq, versucht wichtige Stammesführer auf Staatslinie zu halten. Die Devise dürfte dabei lauten: „Wer sich gegen das Regime wendet, wird liquidiert.“

Bisher waren die Aufforderungen der Rebellen in Bengasi an die mit Gaddafi liierten Stämme vergeblich, sich der Rebellion anzuschließen. „Das repressive Kontrollsystem in Westlibyen funktioniert noch“, so Abu Taleb vom Ahram Zentrum. Gaddafi kann sich noch auf die internen Sicherheitsdienste und besonders auf das Militär verlassen, das eine völlig andere Rolle spielt als in Ägypten und Tunesien. Dort hatte sich die Armee mit den Pro-Demokratie-Protestlern solidarisiert und so den Abgang der Präsidenten ermöglicht.


Verbotener Einsatz von Streubomben.
In Libyen gibt es kein herkömmliches Militärestablishment. Vielmehr sind es Milizen verschiedener Familien, die mit dem Regime verbunden sind. Bei diesen Truppen gab es keine Massendesertierungen wie bei der regulären libyschen Armee, der im militärischen Gesamtgeflecht eher eine untergeordnete Rolle zukommt. Laut dem ehemaligen Justizminister Mahmoud Jalil, der jetzt in Bengasi der Übergangsregierung vorsitzt, „hat jeder Gaddafi-Sohn seine eigene Armee, mit der er tun kann, was ihm beliebt.“ Die am besten ausgebildete und gleichzeitig meistgefürchtete ist die Khamis-Brigade. Sie wird von Khamis Gaddafi befehligt und gehört zu den drei „Regimeschutztruppen“, die zusammen 10.000Mann umfassen soll. Diese Eliteeinheiten waren in den umkämpften Städten Misrata und Ajdabya stationiert und schrecken auch vor dem Einsatz international geächteter Waffen nicht zurück. Human Rights Watch meldete am Sonntag, man habe in Misrata drei verbotene Streubomben aus spanischer Produktion gefunden. Für unbeteiligte Zivilisten können sie fatal sein.

Wie brutal die libyschen Spezialeinheiten sind, hat sich bereits im Februar gezeigt, als sie auf friedliche Demonstranten schossen. Diese Elitesoldaten, die den Söhnen Gaddafis Treue schworen, werden es jeder Zeit wieder tun.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.04.2011)

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