Syrische Proteste münden in Blutbad: Dutzende Tote

(c) AP (Hussein Malla)
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Zum „Tag des großen Protests“ in den Städten gingen Zehntausende Menschen auf die Straße. Am Abend eskalierte die Lage. Die Sicherheitskräfte eröffneten das Feuer auf Demonstranten.

Kairo/Damaskus. Es war der große Test, ob das syrische Regime friedliche Proteste zulassen wird, nachdem es diese Woche offiziell die seit einem halben Jahrhundert geltenden Notstandsgesetze aufgehoben hat. Am Abend stellte sich schließlich heraus: Präsident Assad war nicht bereit zu weichen. Er ließ seine Soldaten schießen und ein wahres Blutbad anrichten, das zuvor Dagewesenes übertraf.

Die täglich wachsende Demokratiebewegung hatte nach dem Freitagsgebet zum „Tag des großen Protests“ aufgerufen. Zehntausende folgten dem Ruf, nicht nur in der südsyrischen Stadt Deraa, wo die Proteste vor fünf Wochen begonnen haben. Sie strömten auch in der Stadt Homs auf die Straße, die diese Woche die bisher größten Proteste erlebt hat.

Und auch in der Hauptstadt Damaskus, in Lattakiya, Banias, Hama und in den kurdischen Gebieten wagten Tausende, sich offen gegen Präsident Assad zu stellen. Anders als zu Beginn der Proteste begnügten sie sich nicht mehr damit, das Regime zu politischen Reformen zu drängen. Sie verlangten offen den Sturz der Machthaber.

Überall Polizei und Militär

Das ist wohl der Grund, warum das Regime den Test eines freien und friedlichen Protesttages ohne Notstandsgesetze nicht bestanden hat. Sowohl in Homs als auch in Duma, einem Vorort von Damaskus, und in der Umgebung Deraas haben Sicherheitskräfte das Feuer auf Demonstranten eröffnet. Bis zum Abend wurden zuerst mehr als 40, später mehr als 70 Tote gemeldet. Und es schien klar, dass es wahrscheinlich noch mehr Opfer geben würde. In Damaskus hatten sich die Polizei und die Staatssicherheit in einer bisher noch nie erlebten Mobilisierung auf allen strategischen Plätzen verteilt. Gleich zu Beginn setzten sie Tränengas ein.

Die Forderungen der Demonstranten wurden immer expliziter: Sie verlangen ein Ende des Machtmonopols der Baath-Partei und den Aufbau eines echten demokratischen Systems. In einer Erklärung eines Koordinationskomitees, das angeblich die Protestbewegung in allen Teilen Syriens repräsentiert, heißt es, dass „Freiheit und Würde nicht ohne einen friedlichen demokratischen Wandel erreicht werden können“. Das Komitee fordert die Freilassung der politischen Gefangenen und die Auflösung des existierenden Sicherheitsapparates, der durch eine Institution ersetzt werden soll, die rechtsstaatlichen Prinzipien folgt. Außerdem sollen alle Todesfälle unter den Demonstranten untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Das Gesetz des Dschungels

„Wir erleben gerade einen Aufstand, an dessen Ende nur der Sturz des Regimes stehen kann“, sagt der syrische Menschenrechtsaktivist Amar Qorabi im Gespräch mit der „Presse“. Er war vor einer Woche zu einer Menschenrechtskonferenz nach Kairo gekommen. Nach mehreren Fernsehinterviews kann er jetzt nicht mehr zurück. „Man kann in Syrien keinen Falafel-Laden ohne die Genehmigung dieses Apparates eröffnen. Wenn du eine Hochzeit abhalten willst, brauchst du deren Genehmigung. Sie schauen bis in dein Schlafzimmer und verfolgen jeden Atemzug. Und als i-Tüpfelchen bestehlen sie dich täglich in ihrem korrupten System“, schildert er die Lage.
Zum Schritt der Aufhebung der Notstandsgesetze, die die Regierung diese Woche angekündigt hat, bleibt er skeptisch. „Das Problem in Syrien sind nicht die Notstandsgesetze, sondern ist das Gesetz des Dschungels“, sagt er. „Der Ball ist im Spielfeld des Regimes. Wenn es eine Zukunft haben möchte, dann muss es grundlegend reformieren, heute oder besser gestern – und nicht erst morgen“, fordert er. „Wenn es das Ganze weiter nur als ein Sicherheitsproblem ansieht, dann wird die Lage weiter eskalieren, bis die Leute ihre Forderungen durchgesetzt haben. Entweder, indem sie das Regime stützen, oder, indem das Regime in ihrem Sinn reformiert“, prophezeit er.

Die Regierung in Damaskus versuche nun schon seit Wochen, die Demokratiebewegung zu diskreditieren. „Erst redeten sie von Agenten, die die Proteste von außen infiltriert haben sollen. Dann sprachen sie von bewaffneten Bande unter Demonstranten.“

17 Staatssicherheitsdienste

Qorabi macht sich über die Macht des Regimes und die ihm zur Verfügung stehenden Mittel keine Illusionen. „Sie haben 17 verschiedene Staatssicherheitsdienste und die Baathpartei, die angeblich zwei Millionen Mitglieder haben soll. Das wären zehn Prozent der Bevölkerung, die zum Teil bewaffnet sind“, schildert er.

Die Armee nimmt er aus. Wenn die Medien vom Militär sprechen, das gegen die Demonstranten vorgeht, dann sprächen sie nicht von regulären Einheiten Wehrpflichtiger.

Auch der oppositionelle syrische Journalist Ahmad Heso glaubt nicht mehr, dass sich die Protestbewegung noch von den Reformversprechungen Bashir Assads beeindrucken lässt: „Es ist klar, dass die Menschen eine Veränderung wollen, und dass sie dafür Opfer in Kauf nehmen.“

Auf einen Blick

Der Assad-Clan regiert Syrien seit 40 Jahren mit harter Hand. Der ehemalige Luftwaffenchef und Verteidigungsminister Hafiz al-Assad putschte sich 1971 an die Macht. Als Mitglied der Baath-Partei verfolgte der Alawit totalitäre Ideen. In den 29 Jahren seiner Herrschaft stützte er sich vor allem auf Armee und Geheimdienste. Nach seinem Tod wurde sein Sohn Bashir im Jahr 2000 Präsident. Viele der versprochenen Reformen blieb er schuldig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.04.2011)

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