Wahl in Kanada: Die vergessenen Ureinwohner

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In vielen Wahlkreisen könnten die Stimmen der Indianer entscheidend sein. Ihre Nöte und Sorgen spielen in den Kampagnen aber kaum eine Rolle. Ausbildung und Arbeit sind zentrale Themen für die Indianer.

Die Ufer des Golden Lake sind noch schneebedeckt. Hier, eineinhalb Autostunden westlich von Kanadas Hauptstadt Ottawa, haben die Algonquin-Indianer von Pikwakanagan ihr traditionelles Siedlungsgebiet. „Wunderschönes Hügelland, das von immergrünen Pflanzen bedeckt ist“, heißt Pikwakanagan in ihrer Sprache. Ein Schild am Straßenrand heißt die Besucher willkommen. An der Hauptstraße stehen eingeschoßige Wohnhäuser, durch die Bäume funkelt in der Frühlingssonne die Wasseroberfläche des Golden Lake.

Im Schnee vor dem Haus von Tom und Gloria Bernard steckt ein orange-grünes Schild mit der Aufforderung „Wählt Eric Burton“. Burton ist der örtliche Kandidat der Sozialdemokraten. In dem rund 750Hektar großen Reservat, in dem etwa 400Menschen leben, scheint es das einzige Wahlplakat zu sein. Ansonsten deutet nichts auf die Entscheidung über die künftige Bundesregierung hin, die weitreichende Befugnisse und Pflichten hat, wenn es um die Ureinwohner geht.

„Die meisten kümmern sich nicht um die Wahl, weil sie nicht glauben, dass ihre Stimme irgendeinen Einfluss hat“, sagt Gloria, eine ältere Dame. Vielleicht liege es ja daran, dass sich die Politiker und ihre Mitarbeiter kaum um diese kleine indianische Gemeinde kümmern, meint ihr Mann Tom, der im Rollstuhl sitzt: „Ich habe wenige Leute gesehen, die hier um Stimmen werben“, sagt er.

Gebrochene Versprechen

Merv Sarazin, der Leiter der Gemeindeverwaltung, sieht das ähnlich. „Diese Leute verwenden nicht viel Zeit für uns“, sagt der 50-jährige Algonquin. „Wir sind nur eine kleine Zahl von Wählern, die nicht ins Gewicht fällt.“ Aber er glaubt auch, dass viele in seiner Gemeinde die Verbindung zwischen der Bundespolitik und ihrem Leben nicht erkennen. Dazu kommt die Desillusionierung: „Wir haben eine Serie gebrochener Versprechen erlebt“, sagt er.

Angesichts oft äußerst knapper Resultate ist es überraschend, dass nicht stärker um diese Stimmen geworben wird. In etlichen Wahlkreisen haben die Ureinwohner einen Anteil von mehr als zehn Prozent der Wahlberechtigten und könnten die Wahl entscheiden. 2008 sank die Wahlbeteiligung in Kanada auf ein historisches Tief von 58,8Prozent, bei den Ureinwohner lag sie noch niedriger.

Einige Stämme boykottieren Wahl

Shawn A-in-chut Atleo ist ein moderner Mann. Der 44-Jährige vom Volk der Nuu-chah-nulth auf der Vancouver-Insel ist der nationale Häuptling und Vorsitzende des Dachverbands Assembly of First Nations. Er versucht, das Interesse der indianischen Nationen an den Wahlen zu steigern und will, dass sie sich informieren und zumindest in die Diskussionen einschalten. Der Verband bedient sich dabei des Internets, nutzt Twitter sowie Facebook und veranstaltet virtuelle Versammlungen. Dabei akzeptiert Atleo die divergierenden Meinungen unter den Indianervölkern. Einige, wie etwa die am Sankt-Lorenz-Strom siedelnden Mohawk, lehnen die Teilnahme an Wahlen ab, weil sie sich als eigenständige Nation verstehen, die nicht in die Wahl einer „externen“ Regierung – also der Kanadas – eingreifen sollte.

Der Oberhäuptling der Indianer Manitobas, Grand Chief Ron Evans, ist ganz anderer Ansicht. „Nehmt teil! Mischt euch ein! Handelt, übernehmt die Kontrolle“, fordert er: Nichtstun würde ein Fortdauern der „Dritte-Welt-Bedingungen“ in vielen First Nations bedeuten: „Wenn wir nicht wählen, hören uns die Politiker nicht.“

Aber es ist nicht leicht, damit durchzudringen. Die Indianer sehen, dass ihre Sorgen und Nöte kaum eine Rolle spielen. „Themen der First Nations werden bei Wahlen als nicht wichtig für dieses Land angesehen“, sagt Häuptling Atleo im Gespräch mit der „Presse“. „Wir wenden uns auch an die Kanadier, dass sie das große Potenzial erkennen, das in uns steckt– und die Kosten, wenn diese Anliegen nicht erkannt werden.“

Wenig Bildung, viel Prostitution

Ausbildung, Arbeit, Verbesserung der Lebenssituation, das sind für Atleo die zentralen Themen. Zwischen den Ureinwohnern und der Mehrheit der Kanadier klafft bei fast allen Indikatoren eine teils erschreckende Lücke. Nur die Hälfte der jungen Indianer vollendet die High School, nur acht Prozent haben einen Universitätsabschluss, im Vergleich zu 23Prozent der Mehrheitsbevölkerung. 90Prozent der minderjährigen Prostituierten in Kanada sind Ureinwohnermädchen, die Suizidrate Jugendlicher liegt um ein Mehrfaches über dem Landesdurchschnitt. Mehr als hundert Indianergemeinden haben keine sichere Trinkwasserversorgung.

„Wenn wir die Lücke zwischen Indianern und den übrigen Kanadiern in der Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt schließen, können wir binnen einer Generation 400Milliarden Dollar zur Volkswirtschaft beisteuern und der Regierung Ausgaben von etwa 115 Milliarden Dollar ersparen“, rechnet Atleo vor. Die Ureinwohner seien das am schnellsten wachsende Segment der Gesellschaft. Angesichts des drohenden Arbeitskräftemangels und der Überalterung der Gesellschaft sei es an der Zeit, aufeinander zuzugehen.

Auf einen Blick

Kanadas Ureinwohner machen etwa vier Prozent der 34Millionen Einwohner aus. Etwa zwei Drittel gehören den über 600 „First Nations“ an, wie sich die Indianer nennen, ein Drittel sind Metis, Nachfahren von Indianern und europäischen Siedlern. Hinzu kommen bis zu 50.000Inuit. Indianer dürfen seit 1960 wählen, ohne ihren Status als Indianer aufgeben zu müssen, Inuit haben seit den 1950er-Jahren das Wahlrecht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.04.2011)

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