Arabische Welt. In den meisten Staaten der Region war nach Osama bin Ladens Tod vorsichtige Genugtuung zu vernehmen. Das Ende des Terrorpaten trifft auf einen Nahen Osten, der sich in einem radikalen Umbruch befindet.
Kairo. Eine Katastrophe nannte ein al-Qaida-Mitglied im Jemen den Tod von Osama bin Laden. Erst wollte er die Nachricht gar nicht glauben, „dann haben die Brüder in Pakistan sie bestätigt“, sagte er. Den ganzen Tag über herrschte in islamistischen Chatrooms der Region eine Mischung aus Verneinung und Entsetzen. Die einen hielten die Meldung für einen westlichen Propagandatrick, die anderen schworen Rache, stellten Gebete online oder sprachen sich gegenseitig Trost zu.
Der Tod des al-Qaida-Chefs trifft auf einen Nahen und Mittleren Osten, der sich in einem historischen Umbruch befindet. In Tunesien und Ägypten haben die Völker, angeführt durch säkulare junge Aktivisten, ihre autokratischen Regime beseitigt – und damit al-Qaidas ideologisches Kerndogma widerlegt. Denn nicht durch Terrortaten, wie bin Laden und seine Anhänger sie stets gepredigt hatten, sondern durch friedliche Demonstrationen hatten sie den Umsturz erreicht. Entsprechend gereizt fiel die Reaktion des vom Nil stammenden al-Qaida-Vizechefs Ayman al-Zawahiri auf die Vorgänge in seiner Heimat aus. Zwar sei Mubaraks Regime vom Islam abgewichen, eine Demokratie aber könne „nur säkular sein, und das bedeutet gottlos“. Allahs Gesetz würde durch Gesetze von Menschenhand ersetzt.
Moslembrüder auf Distanz
In der Tat: Die Demokratiebewegungen in Tunesien und Ägypten streben nach Offenheit, Pluralität und Freiheit. Ein puritanischer Kodex für „wahre islamische Gesellschaften“, wie ihn bin Laden herbeibomben lassen wollte, ist ihnen zuwider. So ging auch Ägyptens Muslimbruderschaft, die sich teilweise auf die gleichen geistigen Wurzeln beruft wie das Terrornetzwerk, am Montag auf Distanz. Osama bin Laden habe nicht den Islam repräsentiert, zitierte die Agentur AFP deren Vizechef Mahmud Ezzat. Gleichzeitig forderte dieser die USA auf, ihre Truppen aus Afghanistan und dem Irak abzuziehen. Nach dem 11. September habe es sehr viel Konfusion gegeben, Terrorismus sei mit Islam vermischt worden, fügte er hinzu. Und die USA hätten bin Laden als Vorwand benutzt, „um Krieg gegen muslimische Länder zu führen“.
Mohammed Darif, Politologe an der Universität von Casablanca in Marokko und einer der besten Kenner radikaler Bewegungen in Nordafrika, warnt allerdings den Westen vor vorschnellem Jubel. „Was die Bedrohung angeht, wird sich nicht viel ändern“, sagte er in einem Gespräch mit der „Presse“. Die regionalen Akteure, die sich den salafistischen und jihadistischen Überzeugungen verschrieben hätten, würden durch bin Ladens Ende in ihrer Schlagkraft nicht geschwächt. „Es wird weiter Attentate gegen westliche und amerikanische Ziele geben. Die Ableger al-Qaidas sind organisatorisch weitgehend unabhängig – im Maghreb, im Jemen oder im Irak“, erläutert er. Schon lange habe bin Laden in Operationen vor Ort nicht mehr eingegriffen. Innerhalb der eigenen Reihen sei er bereits so etwas wie eine Figur der Geschichte gewesen.
Zudem sieht Darif das Terrornetzwerk durch den „halben arabischen Frühling“ noch längst nicht von der Bildfläche verdrängt. Waren Ägypten und Tunesien eindeutig Niederlagen für al-Qaidas Ideologen, „spielen die Vorgänge in Libyen und Syrien den Radikalen in die Hände“. Denn Muammar Gaddafi und Bashir al-Assad bestätigten wieder das weltanschauliche Narrativ der islamischen Radikalen, dass sich korrupte und diktatorische Regime nur mit Gewalt beseitigen ließen. In den meisten arabischen Staaten herrschte dann auch am Montag ein Ton vorsichtiger Genugtuung.
„Wir sind erfreut über seinen Tod“, erklärte Iraks Außenminister Hoshyar Zebari. Der Irak habe sehr unter diesem Mann und seiner Terrorgruppe gelitten. „Al-Qaida aber wird so schnell nicht verschwinden, auch wenn bin Ladens Ende ein schwerer Schlag für die Organisation ist.“
Hintergrund
Al-Qaida ist heute in zahlreiche regionale Gruppen gegliedert, die weitgehend autonom agieren. Der Kern der „alten“ Organisation Osama bin Ladens umfasst heute nach Schätzung von Experten 400 bis 500 Mann im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet. Diese Kernorganisation kämpft mittlerweile vor allem an der Propagandafront und unterhält nach wie vor Ausbildungslager.
Die wichtigsten regionalen Ableger sind heute „al-Qaida auf der arabischen Halbinsel“ und „al-Qaida im Islamischen Maghreb“. Erstere kann vom Machtvakuum im Jemen profitieren, letztere macht vor allem durch lukrative Entführungen auf sich aufmerksam und operiert von Tunesien bis in den Norden Malis. Der irakische Arm der al-Qaida hat viel von seiner einstigen Schlagkraft verloren. Dazu kommen weltweit Gruppen, die sich der Ideologie al-Qaidas verbunden fühlen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2011)