Russland: Medwedjew lässt Kandidatur offen

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Wer 2012 das Ruder übernimmt, will das Führungstandem noch nicht verraten. Ein Scheinwettbewerb soll sicherstellen, dass alles bleibt, wie es ist. Die Bürger kümmert das wenig, sie haben den Quasidiskurs satt.

Moskau. Wenn Bundespräsident Heinz Fischer dieser Tage auf seinem Staatsbesuch in Russland Premier Wladimir Putin und Kreml-Chef Dmitrij Medwedjew trifft, wird er im Dilemma sein, wem von beiden er für die kommenden Parlaments- und Präsidentenwahlen Glück wünschen soll. Macht er es wie die irritierten Beamten, so setzt er sicherheitshalber auf beide. Unklarheit bis zur letzten Minute ist besser als Klarheit, hat das Tandem befunden.

Wer sich bei Medwedjews groß angelegter Pressekonferenz gestern, Mittwoch, Klarheit auf die Frage erwartet hatte, ob Medwedjew bei den Präsidentenwahlen antritt oder nicht, wurde enttäuscht. „Wenn die Zeit für eine Entscheidung reif ist, werde ich sie verkünden“, sagte er. Der Termin stehe kurz bevor. Die Bekanntgabe einer solchen Entscheidung erfordere aber einen anderen Rahmen als eine Pressekonferenz.

Zurück in den Kalten Krieg?

Medwedjew äußerte sich zu außenpolitischen Themen: Etwa zum Libyen-Konflikt, wo er der Nato eine Manipulation der UN–Resolution vorwarf, zu Syrien, wo er ankündigte, UN-Sanktionen gegen das Land keinesfalls zu unterstützen, und zur offenen Frage eines nuklearen Schutzschirms in Europa. Sollte es keine Einigung mit den USA geben, sei Russland gezwungen, sein Atomwaffenarsenal aufzustocken. „Dies wäre ein sehr schlechtes Szenario, ein Szenario, das uns zurück in die Ära des Kalten Kriegs werfen würde.“

Doch die Innenpolitik dominierte.

Der Kreml-nahe Politologe Dmitri Orlov schrieb dieser Tage, dass derzeit 20 Personen aus dem innersten Kreis der Politik und Wirtschaft eine konsolidierte Position ausarbeiten, wer für die Präsidentenwahl Anfang 2012 kandidieren und was mit dem zweiten Tandempartner geschehen wird. Im Unterschied zu den Wahlen 2007 gebe es jetzt angeblich mehr Einflusszentren in der Elite, die zu koordinieren seien.

Doch die Bürger kümmert das wenig, sie haben den Quasidiskurs und den Aufschub einer Entscheidung bis zum Erbrechen satt. In alter Tradition retten sie sich in die Nichtteilnahme am politischen Leben, das von oben mit immer neuen Kunstgriffen als Scheinwettbewerb inszeniert wird.

Jüngster Dreh: Zwei Tage bevor Medwedjew am gestrigen Mittwoch hunderte Journalisten zur Jahrespressekonferenz versammelte, erklärte sich der 45-jährige Tycoon Michail Prochorow – mit 18 Mrd. Dollar Vermögen drittreichster Russe – bereit, Chef der wenig populären Unternehmerpartei „Die rechte Sache“ zu werden.

Hat Putin den Tycoons eine Teilnahme an der Politik bislang verboten, so scheint Prochorow nun zu einem Engagement gebeten worden zu sein. Bei den Parlamentswahlen im Dezember soll er die frustrierten Unternehmer und marginalisierten Liberalen auffangen, nachdem die realoppositionellen Parteien nicht zur Wahl zugelassen werden.

Nicht aus Liebe zur Konkurrenz stärken die Machthaber systemtreue Parteien links und rechts außen. Vielmehr haben die Regionalwahlen im März gezeigt, dass Putins Partei „Einiges Russland“ kein allumfassendes Sammelbecken für die Verfassungsmehrheit mehr ist.

Im einem anderen Dreh, Anfang Mai, hat der derzeit hyperaktive Putin daher die Idee von der „Allrussischen Volksfront“ kundgetan. Der Clou: Politisch Engagierte sollten auch ohne Parteibuch auf die Wahllisten kommen können und sich zu einer Koalition unter einem starken Anführer versammeln. Die russische Elite, aus Mitgliedern des innersten Clanzirkels inzestuös zusammengesetzt, braucht frisches Blut: „Einiges Russland“ benötige den Einfluss frischer Ideen und Vorschläge sowie neue Gesichter, sagte Putin. Ähnlich sei es in der Wirtschaft, in der die junge Generation keine freien Karriereplätze vorfinden würde, sagte Putin.

Posten für den Machtclan

Putins Initiativen wollen sich daher auch als Plattform verstehen, soziale Mobilität und Aufstiegschancen für jeden zu gewährleisten oder immerhin zu simulieren. In der Tat ist der Mangel an vertikaler Mobilität eine Quelle der Frustration für den Großteil der Bevölkerung. Gerade junge Leute wissen, dass sie nur über ein Bestechungssystem, und selbst da nur eingeschränkt, zum Zug kommen können. Und weil die Wirtschaft mehrheitlich in den Händen des Staates ist, bleiben lukrative Posten dem innersten Machtclan vorbehalten. Einen Beweis dafür bietet die derzeitige Auswechslung der Aufsichtsratsposten in den großen Staatskonzernen. Nachdem Medwedjew die Topbeamten von dort vertrieben hat, wollen diese nun ihre Kinder dorthin hieven, sofern sie nicht ohnehin schon dort sitzen, wie sie es auch in Parlament, Militär und anderen Institutionen tun.

Neue Quasi-Aristokratie

Die führende russische Eliteforscherin Olga Kryschtanowskaja spricht von der Formierung einer neuen Quasi-Aristokratie. Gleich wie die bisherige Elite genieße sie maßlose Privilegien, aber im Unterschied zu ihr nehme das Verantwortungsbewusstsein ab. Damit freilich sinke auch ihre Akzeptanz in der Gesellschaft. Putins Initiativen zum Scheinwettbewerb sind im bestehenden System derart weit von der Realität entfernt, dass sie nicht auf eine Frischzellenkur, sondern nur auf die Erhaltung der eigenen Art hinführen können.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2011)

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