Weißrusslands Regimegegner wollen „Wirtschafts-Jihad“

(c) EPA (Andrei Liankevich)
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Die Machthaber reagieren mit großer Härte auf friedliche Aktionen. Die Aktionen in Europas letzter Diktatur werden immer abstruser. Am Sonntag wurden 340 Personen festgenommen und geschlagen.

Moskau/Minsk. In Weißrusslands Regime liegen die Nerven blank – je länger die schwerste politische und wirtschaftliche Krise seit der Unabhängigkeit des Landes anhält, desto deutlicher wird das. Die Aktionen in Europas letzter Diktatur werden abstruser, die Reaktionen immer brutaler, die Prognosen und Selbsteinschätzungen der Akteure von Mal zu Mal kühner.

Am Dienstag wurden sechs Journalisten in Blitzverfahren zu Arreststrafen verurteilt. Der Korrespondent einer polnischen Zeitung erhielt drei Jahre bedingt, weil er Langzeitdiktator Alexander Lukaschenko angeblich beleidigt hatte. Insgesamt wurden am Sonntag laut der NGO Human Rights Watch 340 Personen festgenommen und geschlagen, darunter Frauen mit Kindern.

„Wer kann, emigriert“

Anlass sind jene schweigsamen Proteste, zu denen sich seit Anfang Juni regelmäßig einige Dutzend bis hunderte Personen versammeln und ohne Protestrufe einfach nur gelegentlich applaudieren. Mittwochabend sollten die übers Internet organisierten Flashmobs zur Verwirrung der Staatssicherheit an mehreren Stellen stattfinden. Außerdem riefen die Anführer die Bevölkerung zum „wirtschaftlichen Jihad“ auf, sprich einheimische Waren zu boykottieren, Geld von den Banken abzuheben und so die schwer angeschlagene Wirtschaft zum endgültigen Zusammenbruch zu bringen.

„Das Regime können die Proteste nicht gefährden“, meint Hans-Georg Heinrich, Weißrusslandexperte des Wiener Forschungsinstituts ICEUR zur „Presse“. „Die breite Bevölkerung will keine Reformen, weil sie Angst hat, dass alles noch schlimmer wird. Wer kann, der emigriert.“

Die Perspektiven sind in der Tat nicht rosig: Nach 16 Jahren an der Macht hat sich Lukaschenko im Dezember im Amt bestätigen lassen. Friedliche Proteste ließ er brutal niederschlagen. Zuvor hat er massenweise Gelder für Wahlgeschenke unters Volk geworfen und damit eine Inflation ausgelöst, die heuer offiziell knapp 40 Prozent erreichen dürfte. Die Währung wurde um die Hälfte abgewertet.

„Die Armen, die früher 500 und jetzt 300 Dollar verdienen, sind die Armut gewöhnt“, so Leonid Zaiko, Ökonom des Minsker Forschungsinstituts „Strategija“. Er sieht keine Voraussetzungen für Massenproteste: „Aber innerhalb der Staatsführung ist die Illusion vom populistischen Wirtschaftsmodell zerbrochen. Das Establishment ist bereits gespalten. Jeder fürchtet den anderen und denkt nicht weiter als einen Tag voraus.“

Sohn will Nachfolger werden

Auch Vladimir Nekljajev, einer der wenigen nicht inhaftierten Oppositionsführer, sprach gestern von einer kommenden Proteststimmung unter Lukaschenkos Anhängern und unter Unternehmern im Herbst: „Die wirtschaftliche Situation wird bald schlechter werden.“

Zaiko sieht das differenzierter: Nach dem Preisschock sei die Krise auf dem Gipfel und werde noch drei Monate andauern. Und weil Lukaschenko sein populistisches Ausgabenprogramm wohl nicht ändern werde, werde der Lebensstandard lange niedrig bleiben. „Aber der Import ist im letzten Monat gefallen, die Handelsbilanz wird ausgeglichen.“ Hält die Tendenz an, braucht er nicht unbedingt weitere Kredite von außen.

Was er braucht, ist die Eselsgeduld seines Volkes, das sich in seinem Konsum längst bescheidet. Und die Härte des Sicherheitsapparates, dessen Chef Lukaschenkos Sohn Viktor ist. Dieser nützt dem Vernehmen nach die jetzige Situation, um seine Härte vor dem Vater unter Beweis zu stellen. Und sich so als möglicher Nachfolger gegen Lukaschenkos Lieblingsthronerben durchzusetzen: das außereheliche Kleinkind Kolja.

Auf einen Blick

Weißrusslands Regime geht mit großer Härte gegen Oppositionelle vor. Diese verzichten bei Protesten mittlerweile auf politische Parolen und ziehen nur mehr schweigend – und applaudierend – durch die Straßen. Diktator Lukaschenko ließ daher kürzlich den Applaus nach einer seiner Reden verbieten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 7. Juli 2011)

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